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Raffgier nicht ausgeschlossen

Von Andreas Kirschhofer-Bozenhardt

Politik

Ein analytischer Blick auf Stellenwert und Selbstverständnis der heutigen Elite.


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Die Szene wiederholt sich in Wien, in Salzburg, in Graz alle paar Monate: Festlich gekleidete Personen kommen zusammen, Kameras surren, die Blitzlichter der Kameras leuchten auf, Schaulustige bestaunen die gebotenen Inszenierungen samt Posen, sei es beim Opernball, dem Ball der Bälle, bei Festspieleröffnungen und ähnlichen Ereignissen.

Ob es sich bei den Personen, um die sich dabei alle Aufmerksamkeit dreht, jedoch um Angehörige einer echten Elite oder einfach um Prominente, vielleicht sogar nur um Privilegierte handelt, lässt sich längst nicht mehr mit Genauigkeit feststellen. Die Grenzen sind fließend geworden. Spätestens die Vergabe der Diplomatenpässe hat die Frage aktualisiert, wer zu Recht oder zu Unrecht auf den obersten Sprossen der sozialen Leiter steht.

Benötigt die heutige Zeit überhaupt Eliten? Verträgt sie dies? Soll die Gesellschaft ganz allgemein hierarchisch oder egalitär gegliedert sein? Und falls man der Notwendigkeit einer Elite zustimmt: Sind die Elsners, Strassers, Grassers und Mensdorffs ihre typischen Repräsentanten? Trifft es ganz allgemein zu, dass es sich bei der Elite um miteinander verflochtene Cliquen handelt?

Die jüngere Diskussion erweckte den Eindruck, dass als Elite vor allem Wirtschaftskapitäne in Gestalt jener Manager begriffen werden, die durch Raffgier und Selbstbedienungsmentalität in Erscheinung getreten sind. So gesehen, kann es nicht überraschen, dass das Wort "Elite" keinen besonders guten Klang hat. Nur 15 Prozent der Bürger finden es, wie das Imas-Institut ermittelte, ausdrücklich sympathisch.

Die demoskopische Sonde stößt ansonsten auf eine uneinheitliche, widersprüchliche Sicht des Problems. Zum einen besteht in der Bevölkerung eine sinkende Bereitschaft, soziale Ungleichheit hinzunehmen, zum anderen bejahen die Österreicher in klarer Mehrheit ein auf Privateigentum und Wettbewerb beruhendes Prinzip, bei dem Leistung und Wissen auch gebührende materielle Anerkennung finden sollen. Sicher ist, dass sich die Österreicher insgeheim nach Leitfiguren mit Vorbildeigenschaften sehnen und diese zur Orientierung im politischen und wirtschaftlichen Alltag vermissen.

Der Elitebegriff hat im Laufe der Jahrhunderte die verschiedenartigsten Deutungen erfahren, die zumeist mit Macht, Einfluss und Militär zusammenhingen. Nach neuerem Verständnis ist Elite eine politisch, sozial oder wirtschaftlich führende Minderheit, die nicht mehr als Geburtselite (durch Abstammung), sondern als "Wertelite" (Zugehörigkeit aufgrund allgemein anerkannter Qualitäten) oder als "Machtelite" (Inhaber von politischen, militärischen oder gesellschaftlichen Führungsfunktionen) in Erscheinung tritt.

Eliten früherer Zeiten entwickelten in der Absicht sich abzugrenzen einen speziellen Habitus. Identitätsstiftend waren nicht nur Adelsprädikate, sondern auch Kleidung, Wohnstil und Angewohnheiten. Natürlich hatte die Abgrenzung negative Folgen wie Arroganz oder Dekadenz. Aber auch das Gegenteil gehörte dazu: Im England des 19. Jahrhunderts wurde das Gentleman-Ideal sogar zu einem Erziehungsziel erhoben, als Synonym für Anständigkeit.

Hierzulande stellt sich die Situation heute so dar, dass es in Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Politik zwar Persönlichkeiten und Gruppen mit augenscheinlich elitären Merkmalen, aber kein verbindliches Verhaltensmuster für ein modernes und politisch adäquates Eliteverhalten gibt. Man erkennt sich an sozialen Rangabzeichen - Titeln, Funktionen, Einflussmöglichkeiten -, aber man hat kein Gruppengefühl und folgt keinen unausgesprochenen Verhaltensnormen, die Raffgier und Rücksichtslosigkeit von vornherein ausschließen. Das hängt sehr wahrscheinlich auch mit einer veränderten Beziehung zur Familie zusammen, die im aristokratischen Milieu einen enormen Stellenwert hatte. Die Erwartung, seinem Namen Ehre zu machen, war ein familiäres Dogma. Heute ist Macht nicht mehr an Familienehre gekoppelt; Frau Rauch-Kallat muss sich nicht um ihr Ansehen sorgen, wenn ihr Mann wegen Korruptionsverdachts am Pranger steht.

Man sollte zudem nicht vergessen, dass Eliteangehörige früherer Zeiten auch Sanktionen des eigenen Standes ausgesetzt waren. Allein der Verdacht eines Vergehens genügte zur gesellschaftlichen Ächtung. Diese "soziale Kontrolle" scheint viel an Durchsetzungskraft verloren zu haben. Bezeichnend dafür ist die auch bei massiven Verdachtsmomenten fast stereotype Weigerung von Politikern zu Rücktritten.

Als ein weiteres Erklärungsmotiv für den leichtherzigeren Umgang mit politischer oder wirtschaftlicher Macht ist die Lockerung der religiösen Bindungen zumindest nicht auszuschließen. Es wäre freilich unrealistisch, zur Verbesserung der Verhaltensmoral eine verstärkte Hinwendung zur Religion zu predigen. Zeitgemäßer dürfte es sein, der Skrupellosigkeit die sittliche Idee Kants entgegenzusetzen, wonach der Zweck des Daseins nicht größtmöglicher Genuss, sondern die Erfüllung der Pflicht gegenüber der Gemeinschaft ist.

Unabhängig von solchen Überlegungen darf sich eine Analyse der heutigen Elite aber nicht mit den moralischen Aspekten begnügen, so sehr sie auch die Tagesordnung beherrschen mögen. An dieser Stelle ist anzumerken, dass trotz der breit veröffentlichten Schurkereien von einem moralischen Verfall der politischen und wirtschaftlichen Elite großen Stils nicht gesprochen werden kann.

Die Frage drängt sich auf, worin heute die Aufgabe einer Elite, abgesehen vom Entscheiden über berufliche oder politische Sachprobleme, denn eigentlich besteht. Eine Antwort darauf könnte generalisierend auf Vorbildwirkungen abzielen: dass sie sich für anspruchsvolle Ausbildungskriterien und Leistungserwartungen einsetzt, die Forschungsfreudigkeit fördert, zu initiativem Verhalten und kritischem Denken anregt und letztlich eine Aufsteigermentalität, verbunden mit Toleranz gegenüber dem sozial Schwächeren, initiiert. Elite sollte alles in allem einen gesellschaftlichen Gestaltungswillen erkennbar machen. Doch wie sieht die demoskopisch gemessene Wirklichkeit aus?

Charakteristisch für die "oberen 10 Prozent" ist - (abgesehen von überdurchschnittlichem Besitz und Einkommen) - zunächst ein waches Interesse an Gegenwarts- und Zukunftsfragen. Dies führt dazu, dass die soziale A-Schicht sehr viel mehr liest und alle Medien intensiver verfolgt, als es die übrige Bevölkerung tut. Aus dem gesammelten Wissen entsteht jedoch wenig politische Dynamik. Prinzipiell gering ist (insbesondere in der jüngeren Oberschicht) die Neigung, innerhalb einer Partei eine Funktion auszuüben. Auch das Angebot von politischen Führungsfunktionen stellt für Jüngere keine Faszination dar. Diese Abstinenz wurzelt in der Auffassung, dass ein öffentliches Amt viel Ärger und Strapazen bringt.

Die Gesamtschau demoskopischer Daten führt zur Gewissheit, dass sich die Elite markant von der Bevölkerungsmehrheit unterscheidet. Sie ist moderner, internetbezogener, globalisierter, kosmopolitischer und damit unpatriotischer als die Masse der Österreicher, aber sie bildet keine soziale Subkultur. Ihr Mangel an politischem Ehrgeiz gibt im Übrigen Anlass zu Sorge, denn es ist zu befürchten, dass hierzulande in Zukunft nicht nur Fachkräfte in Wirtschaft und Wissenschaft, sondern auch politischer Führungsnachwuchs und damit gestalterische Ideen fehlen werden. Zur Illustration einige Kernergebnisse aus der Imas-Forschung:

  • 36 Prozent der Elitepersonen betrachten sich als politisch nur beiläufig interessiert;

  • 45 Prozent der Oberschichtangehörigen sagen: "Ich bin im Grunde mehr für Stabilität als für Veränderungen";

  • nur 40 Prozent aus den Führungsrängen hätten eine Freude daran, unser politisches System zu verändern.

Dazu gesellt sich eine geringe Exponierbereitschaft: 60 Prozent der Personen mit Elitemerkmalen halten es zwar für notwendig, den eigenen politischen Standpunkt auch öffentlich zu vertreten, nur 34 Prozent würden es jedoch tun. Ähnlich verhält es sich mit der Parteibindung: 45 Prozent der Führungsfiguren befürworten es, sich öffentlich zur Partei zu bekennen, der sie nahestehen, nur 37 Prozent sind bereit, diesen Vorsatz zu verwirklichen.

Das offenkundige Fehlen an Zivilcourage erinnert an ein Wort Bismarcks, als er 1864 einem Verwandten vorwarf, ihn im Preußischen Landtag im Stich gelassen zu haben: "Mut auf dem Schlachtfeld ist bei uns Allgemeingut", zürnte der Eiserne Kanzler, "aber Sie werden nicht selten finden, dass es ganz achtbaren Leuten an Zivilcourage fehlt."

Andreas Kirschhofer-Bozenhardt ist Leiter und Gründer des Linzer Imas-Meinungsforschungsinstituts.