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IS-Terrorgruppe kontrolliert bereits 90 Prozent der Provinz Anbar westlich von Bagdad - Schiiten rüsten sich für die Schlacht.
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Falludscha. Die "Straße der Oliven" in Abu Ghraib ist menschenleer. Nur vor dem Gebäude der Fakultät für Landwirtschaft, einer Ausgliederung der Bagdad Universität, bewegt sich schnell eine Handvoll Studenten auf den Eingang zu. Das Fabrikgelände nebenan, das einst Iraks größte Milchproduktionsstätte war, ist ebenfalls verwaist. Gewiss haben die Einwohner Angst vor Daesh, ist der erste Gedanke. Das arabische Wort für die Terrormiliz IS (Islamischer Staat) ist seit einem Jahr in aller Munde. Angst und Schrecken dominieren, seitdem die finsteren Dschihadis das Land zwischen Euphrat und Tigris überfielen und ihren eigenen Staat ausriefen. Diesen wollen sie nun verteidigen, und es geschieht mit Brachialgewalt. "Nein, nein", beschwichtigt ein Uniformierter am Kontrollpunkt, "es ist nicht wegen Daesh, dass kein Mensch zu sehen ist." Der junge Mann deutet gen Himmel, wo die Sonne am Mittag im Zenit steht und am Boden fast 40 Grad im Schatten verursacht. Abu Ghraib ist die erste Stadt der Provinz Anbar, wenn man von Bagdad aus Richtung Westen fährt. Schon mehrere Male ist sie von IS angegriffen worden. Falludscha ist bereits seit Anfang 2014 in der Hand des IS. Die vor zwei Tagen gestartete Offensive soll nun auch die Provinzhauptstadt Ramadi gänzlich unter ihre Kontrolle bringen.
Um zu Brigadegeneral Ali Abdul Hussein Khadim zu gelangen, müssen insgesamt elf Kontrollpunkte passiert werden, obwohl sein Hauptquartier nur knapp 50 Kilometer von Bagdad entfernt liegt. Weitere 30 Kilometer sind es nach Ramadi. Seit Sonntagabend weht dort die schwarze IS-Fahne auf dem Gouverneurspalast. Es scheint, als wolle die Terrormiliz Rache üben für die Vertreibung aus Tikrit Ende März. Soll die verlorene Hauptstadt der Provinz Salahuddin nun gegen die Provinzhauptstadt Anbars eingetauscht werden? Schon von Anfang an war Iraks größte Provinz Anbar eine Hochburg des IS gewesen. Jetzt aber sollen 90 Prozent in IS-Hand sein. Lediglich Abu Ghraib, das wegen des US-Folterskandals im Gefängnis der Stadt traurige Berühmtheit erlangte, ist noch verschont geblieben. Am Montagmorgen hat Iraks Premier Haider al-Abadi den Befehl gegeben, Schiitenmilizen zum Kampf um Ramadi zu entsenden. Am Mittag sind die Checkpoints schon gemischt besetzt. Sunniten und Schiiten versehen gemeinsam Dienst.
Schiiten-Milizenzur Hilfe abkommandiert
Das war ursprünglich so nicht vorgesehen, denn in der mehrheitlich von Sunniten bewohnten Provinz Anbar sind die Schiiten nicht gern gesehen. Grund ist der schiitische Ex-Premier Nuri al-Maliki, der seine sunnitischen Landsleute immer mehr vom politischen Prozess ausschloss und die Armee fast nur mit Schiiten besetzte. Die über ein Jahr dauernden friedlichen Proteste wurden ignoriert, Forderungen in den Wind geschossen. Schließlich verbündeten sich die sunnitischen Kräfte in Anbar mit Daesh gegen die Regierung in Bagdad. Der Kampf um Anbar wurde zur sunnitischen Sache erklärt. Doch die Lage ist so ernst, dass der neue Premier nun alle verfügbaren Kräfte einsetzen will.
Allerdings scheint er sich der Brisanz seiner Entscheidung bewusst zu sein. Um den religiösen Konflikt nicht noch einmal aufflammen zu lassen, wurden in Abu Ghraib und anderswo in der Provinz große Plakate aufgestellt, die die Einwohner auf die Präsenz der Schiitenmilizen vorbereiten: "Wir dienen allen Irakern", verkünden die schiitischen Geistlichen, Großajatollah Ali al-Sistani und Sayed Ammar al-Hakim. Auch Premier Abadi tut alles, um die Situation nicht wieder eskalieren zu lassen. Als letzte Woche Mitglieder einer Schiitenmiliz im Bagdader Sunnitenviertel Adamija Feuer legten, war der schiitische Premier sofort zur Stelle, um zu schlichten. 2006/07 und 2008 kam es vor allem in der Hauptstadt zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Religionsgruppen, die weithin als Bürgerkrieg bezeichnet werden. Tausende wurden getötet, Hunderttausende sind geflohen. Jetzt versuchen die Mitglieder des extremistischen IS den alten Konflikt wieder aufleben zu lassen, indem sie die Schiiten als Ungläubige bezeichnen, die es zu töten gelte.
In Anbar kommt der General von einer Inspektion des Frontabschnitts zurück, den er zu verantworten hat. Germa liegt fünf Kilometer von Falludscha entfernt. Alles, was dahinter liegt, ist Daesh-Land oder das "Kalifat", wie Chef Abu Bakr al-Baghdadi es nennt. Es sei ruhig, berichtet der 1,68 Meter kleine, 46-jährige Brigadekommandeur und setzt kurz sein purpurrotes Barett ab. Während in seinem Büro die Klimaanlagen surren, knallt die Sonne auf die Gartenidylle, die sich der Kommandeur und seine Offiziere geschaffen haben. Vögel zwitschern im offenen Käfig, Katzen streunen, ein Hahn kräht am helllichten Tag. Die Surrealität des Krieges ist auf diesen wenigen Quadratmetern versammelt.
Vor den Torender Hauptstadt
Ali Abdul Hussein Khadim kommandiert die Al-Muthanna-Brigade, eine der fünf Armee-Einheiten, die zum Schutz Bagdads rings um die Hauptstadt stationiert sind. Von allen hier hat er den schwierigsten Job. Sein Gebiet reicht vom Stadtrand Bagdads (Amiria) bis nach Germa, einem Vorort von Falludscha, wo die Frontlinie mit dem IS verläuft. Khadim muss Abu Ghreib schützen und den Internationalen Flughafen, ebenfalls ein begehrtes Objekt der IS-Terroristen. Sein Vorgänger ist bei den Gefechten ums Leben gekommen.
Alles in allem seien die Kampfaktionen von Daesh militärisch gesehen jedoch eher schwach, meint Khadim. Die Propaganda sei das Stärkste, was sie zu bieten hätten. Damit sei auch das wiederholte Weglaufen der irakischen Armee zu erklären; in Ramadi geschah es nun erneut.
Den Gegner kleinzureden ist Taktik und stärkt die Moral der Truppe. Denn schätzungsweise die Hälfte der Soldaten der irakischen Armee ist mittlerweile desertiert, wie man an Kadhims Truppenstärke klar erkennen kann. Die Brigade besteht aus 3462 Soldaten der regulären Armee und 3186 schiitischen Freiwilligen, die gegen die sunnitische Terrororganisation kämpfen wollen. Auch wenn der General mit Nachdruck betont, dass auch Sunniten und Christen in seinen Reihen zu finden sind, überwiegen die Schiiten doch bei Weitem. Auf der Fahrt zurück nach Bagdad fällt die Militärbasis Habanija auf. Dort hätten am Montagmittag junge Rekruten vereidigt werden sollen. Die Zeremonie ist dem Kampf um Ramadi zum Opfer gefallen.