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Rassismus zwischen Hybris und Reibach

Von Gerhard Männl (Bürgerjournalist)

Leserforum

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Heißa! Endlich wurde die Oscar-Academy in die Knie gezwungen. Wegen ihrer rassistischen Entscheidungen! Der Anteil der Oscar-Preisträgerinnen und Oscar-Preisträger aus Minderheiten war und ist zu gering!

Die Oscar-Academy ist nicht mehr Hollywood und Hollywood ist nicht mehr der Linksaußen-Gegenspieler der McCarthy-Ära. Aber Hollywood und die Oscar-Academy als rassistischen Clan alter weißer Männer, so eine Art Ku-Klux-Klan in Nadelstreif, zu interpretieren, verwundert; vor allem wenn sogar kein Geringerer als Danny DeVito in diesem Zusammenhang "The Entire Country Is A Racist Country" twittert.

Mit an vorderster Front wirft sich wieder einmal Will Smith als selbstloser Repräsentant der unterdrückten Minderheiten in die gerechte Schlacht der Gerechten. Will Smith, der sich schon beklagte, er könnte nicht Präsident der USA werden, weil er schwarz sei, Will Smith, der sich schon beklagte, Hollywood hätte ein Problem mit einer Liebesszene eines Schwarzen mit einer Weißen. Will Smith, ein begnadeter Schauspieler, insbesondere wenn er - wie üblich - Will Smith spielt. Vielleicht wird er sich einmal beklagen, dass er in der Metropolitan Opera nicht den Othello singen darf; weil er schwarz sei. Tatsächlich erregte 2014 die Wahl Msamatis als ersten - hervorragenden - schwarzen Jago durch die Royal Shakespeare Company beachtliches Aufsehen.

Bevor sich Will Smith beklagt, er dürfe keinen Weißen spielen, könnte er Til Schweiger spielen. Eine Rolle, die ihm auf den Leib geschrieben scheint: Watt, schon wiidaa keenen Oskaa? Übrigens, wussten Sie, dass Til Schweiger in Heuchelheim groß wurde? Nebenbei kämpft Will Smith - was seine hohen Spenden an Scientology beweisen - auch für religiöse Minderheiten.

Von den diskriminierten Topverdienern zum anderen Ende der Gesellschaft: dem diskrimierten Habenichts. Weitgehend unbekannt ist, dass sich auch Mitteleuropäer und Mitteleuropäerinnen obrigkeitlich verfolgt fühlen - was durch Erlebnisse eines Mollaths gar nicht so abwegig klingt - und mitunter in Nachbarländern um Asyl ansuchen. Ich kenne mehrere, die unabhängig voneinander in der Schweiz wegen vermeintlicher gerichtlicher Verfolgungen außerhalb des Kholschen Verfassungsbogens in der Schweiz um politisches Asyl angesucht hatten. Sie wurden - amikal ausgedrückt - verlacht. Österreich sei ein sicheres Land und ein Rechtsstaat. Wenn jemand in Österreich Probleme mit Gerichten hat, dann zu Recht. Marokko ist ebenfalls ein sicheres Land und ein Rechtsstaat. Trotzdem wird marokkanischen Flüchtlingen ein Asylverfahren gewährt.

Die Differenzierung, in Europa gebe es keinen Anlass, zu flüchten, sondern nur in Ländern wie Marokko, ist in meinen Augen ein Fall von Hybris. Natürlich sind die Verhältnisse bei uns ungleich bequemer und behaglicher. Aber europäische Gerichte werden - wie die marokkanischen - von Menschen geführt. Sind die europäischen Richterinnen und Richter besser als ihre marokkanischen Kollegen? Sind wir Europäer besser als Marokkaner? Über jeden Zweifel erhaben?

Die weit verbreitete Auffassung, Schwarze werden diskriminiert, Schwarzen muss zu ihrem Recht geholfen werden, wird meiner Meinung nach auch durch Überheblichkeit mitgetragen. Ich glaube nicht, dass Morgan Freeman Fürsprecher für seine Oscar-Verleihung notwendig hatte. Freeman spielt natürlich auch Aktionrollen, aber er füllt auch Charakterrollen aus. Ich kenne viele Angehörige einer Minderheit (irgendwie ist jede und jeder irgendeiner Minderheit angehörig), die sich gerade durch den Tatendrang der selbsternannten Helfer und selbstgerechten Retterinnen diskriminiert fühlen. Die meisten fühlen sich durchaus in der Lage, für sich selbst zu sprechen. Abgesehen davon ist gut gemeint oft das Gegenteil von gut getan, wie man zum Beispiel an der Entwicklung eines einst als sozialistischen Erlöser gefeierten Robert Mugabes erkennen muss.

Hilfe ist gut, aber Hilfe darf zu keiner krankhaften Befriedigung eines Helfersyndroms ausarten. Hilfe muss von den "Hilfsbedürftigen" auch gewollt und angenommen, allerdings ohne auszunützen, werden.
Karl Popper meinte - weit über die Probleme der Oscar-Verleihung und des Asylwesens hinausgehend - einmal: "Die Hybris, die uns versuchen läßt, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, verführt uns dazu, unsere gute Erde in eine Hölle zu verwandeln."

Vor Jahren sah ich in einem Slum in Ernakulam, einer 3-Millionen-Stadt in Kerala, als ich mich zufällig umdrehte, in das Gesicht einer jungen Frau. Sie stand - vollkommen unscheinbar und apathisch - hinter mir mit einer offenen Hand, die eher um Entschuldigung als um Almosen zu bitten schien. Sie war das, was in KZs "Muselmann" genannt wurde. Obwohl Bettelszenen, nicht nur in Indien, für mich nicht ungewöhnlich waren und ich immer Kleingeld bei mir trug, war ich überfordert. Hier starb mitten im Trubel ein Mensch. Sein Leben hätte ich nur retten können, wenn ich mein Leben - zumindest für einige Zeit - aufgegeben hätte. Ich tat es nicht. Kurz darauf flog ich weiter. Auf dem Flughafen in Thiruvananthapuram, das Einheimische noch immer Trivandrum nennen, kaufte ich mir mit den letzten Rupien Chashews. Mir fehlten etwa 20 Rupien, damals ca 30 Cents. Die Verkäuferin gab mir die Nüsse trotzdem. Was sind schon 20 Rupien? Das Doppelte, das ich der "Muselmann" gab.

Ich muss oft an dieses Gesicht, diese Frau, denken. Hatte sie ein lediges Kind geboren? War sie wegen dieser Schande aus ihrer Familie verstoßen worden? Ist ihr Kind an Unterernährung gestorben? Hatte sie wegen einer längeren Krankheit ihre letzte Chance, als Prosituierte zu überleben, verloren? Lebte sie noch, als ich im Flieger über Ernakulam Richtung Mumbai, in dem die Hälfte noch immer in den Slums Bombays leben, flog? Und meine Cashews aß?

An dieses Gesicht, an ausgelachte Österreicher, die in der Schweiz um Asyl ansuchen und an die Diskriminierung eines Will Smiths denke ich, wenn ich vor dem Medienhype über Rassismus und Flüchtlinge nicht mehr flüchten kann.