1958 wurde an der Strecke Augsburg-München die erste deutsche Autobahnkirche geweiht. Inzwischen gibt es in Deutschland, aber auch in Österreich und der Schweiz viele Gotteshäuser am Straßenrand.
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Von links nach rechts begrenzen die schneebedeckten Gipfelketten der Allgäuer, Vorarlberger und Ostschweizer Alpen den Horizont. Bei schönem Wetter kann man auf der Autobahnraststätte Hegau-West bei Singen die Silhouetten von Eiger, Mönch und Jungfrau erkennen. Davor erstreckt sich die idyllische Bodenseelandschaft, dahinter thronen die bräunlich schimmernden Vulkankegel des Hegau, der dem Rastplatz nahe der Schweizer Grenze zu seinem Namen verholfen hat.
Seit der Einweihung des Autobahnabschnitts 1998 hatte Bernhard Albrecht aus der badischen Kleinstadt Engen immer wieder bedauert, dass die Durchreisenden auf der Raststätte nur zur Nahrungsaufnahme einen Zwischenstopp einlegten. Der frühere Autobahnamt-Mitarbeiter träumte von einem Ort der Ruhe und der Besinnung, eine Autobahnkapelle schwebte ihm vor. Und so sammelte der Protestant Gleichgesinnte um sich, beteiligte sich an der Gründung des Trägervereins Autobahnkapelle im Hegau und brachte sein Anliegen den Kirchen in der überwiegend katholischen Gegend vor.
Heilige Halle
Diese rieten zunächst ab und gaben zu bedenken, dass sie selbst der Unterhalt bereits vorhandener Kirchengebäude bis zum Äußersten belaste.
Albrechts Verein ließ sich nicht entmutigen und ging in die Offensive. Von Anfang an durch Spendengelder kräftig unterstützt, erbrachten die Befürworter den Beleg, dass sie das Gotteshaus weitgehend aus eigenen Mitteln erbauen und unterhalten konnten.
Da willigten auch die Kirchen ein. Nach einjähriger Bauzeit konnte das 640.000 Euro teure Gotteshaus 2005 fertiggestellt werden, die katholische und die evangelische Kirche hatten sich mit 50.000 und 25.000 Euro beteiligt. Gäbe es da nicht das Hochkreuz, würde wohl niemand auf den Gedanken kommen, dass das kubische Gebäude mit seinen glatten Fassaden eine heilige Halle ist.
"Für mich war der schönste Moment, als ausgerechnet der Freiburger Weihbischof Paul Wehrle anregte, aus der Emm-aus-Kapelle, wie das Gebäude anfangs hieß, eine ökumenische Stätte des Gebets und der Begegnung zu machen", erinnert sich Bernhard Albrecht. Die aus Beton errichtete Stätte, deren Unterhalt vornehmlich durch Spenden und dem Verkauf von Kerzen sowie Postkarten bestritten wird, erinnert in ihrem rechteckigen Grundriss an mittelalterliche Klosterstrukturen mit Eingangskreuz, Garten und schützenden Mauern.
Gerade hat eine junge Theologin aus Stuttgart mit ihren Angehörigen den Vorhof verlassen. "Es gefällt mir, dass sie so angelegt wurde, dass man sich über Einzelstufen allmählich herantasten kann", stellt sie fest. Mit forschem Schritt hingegen betritt ein aus München stammender Motorradfahrer, der in der Nähe gerade eine Kur abgeschlossen hat, die Kirche und entzündet Kerzen. "Ich habe eine schöne Zeit hinter mir, dies ist ein Zeichen meiner Dankbarkeit", sagt er im Gespräch. "Aber jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe um 17 Uhr ein Treffen in München", fügt er hinzu und eilt davon.
Kerzen und Fürbitten
Viele der Besucher entzünden Kerzen und verharren in sich gekehrt, manche nur kurz, andere länger. Besonders aufschlussreich sind die Fürbittbücher, in denen die Besucher in einer Vielzahl von Sprachen ihren Dank zum Ausdruck bringen oder persönliche Bitten hinterlassen. Vielleicht ist es auch die Anonymität dieser sakralen Orte, die Besucher veranlasst, sich ihr Leid von der Seele zu schreiben. "Ich bin total am Ende, hilf mir Herr", kann man da etwa nachlesen.
Gebhard Reichert, der als Pfarrer im Ruhestand im benachbarten Singen lebt, lädt zu sporadisch stattfindenden Gottesdiensten "mit sehr knapp gehaltenen Predigten" in die Autobahnkirche ein. "Sie werden schriftlich angekündigt und sind meist sehr improvisiert", berichtet der 78-Jährige. "Ich spreche die Besucher dann zuvor persönlich an, ob sie teilnehmen wollen. Manchmal heißt es: Tut mir leide, ich muss weiter." Typisch sei für eine Autobahnkirche, dass Leute ständig kommen und gehen, "trotzdem entsteht dadurch keine Hektik", sagt er.
Eine fromme Stiftung
Die erste Kirche dieser Art wurde 1958 an der Autobahn bei Augsburg geweiht. "Maria Schutz der Reisenden" bei Adelsried geht zurück auf einen Unternehmer, der bei einem Verkehrsunfall einen Familienangehörigen verloren und zum Gedenken Grundstück und Rohbau gestiftet hatte.
Mittlerweile ist ihre Zahl bundesweit auf 29 angestiegen, besonders viele stehen im Westen und im Osten Deutschlands. Mit Ausnahme der katholischen Autobahnkirche St. Christophorus bei Baden-Baden, die sich durch eine außergewöhnliche künstlerische Gestaltung auszeichnet, sind diese speziellen Kirchen recht bescheidene Gebäude, deren Architektur oftmals Zelten nachempfunden ist. Ihre jeweiligen Standorte sind eher dem Zufall als einer sorgfältigen Planung zu verdanken.
Die ältesten Gotteshäuser, die bisweilen auf Romanik und Gotik zurückgehen, findet man auf dem Gebiet der früheren DDR, es handelt sich mehrheitlich um Sakralgebäude, die gleichzeitig als Gemeindekirchen dienen. Dort sind die Gemeinden im Vergleich zur alten Bundesrepublik zahlenmäßig sehr klein. Es bringt den Pfarrämtern zusätzliche Kirchenzuschüsse ein, wenn sie die normalen Gemeindekirchen auch als Autobahnkirchen nutzen. In der um Ideen nie verlegenen Niederlausitz erhob man die Dubener Fachwerkkirche aus dem 17. Jahrhundert kurzerhand zur Autobahnkirche, um der schwindenden Besucherzahl entgegenzuwirken. Seit 1997 macht an der Autobahn ein eigenes Schild auf das Gotteshaus aufmerksam.
Zu den ungewöhnlichsten Autobahnkirchen zählt die evangelisch-lutherische Epiphanias-Kirche, die sich mitten in der Großstadt Bochum erhebt. Offiziell zum "Rastplatz für die Seele" ernannt, besticht das im Bauhaus-Stil errichtete Gotteshaus durch seine schlichte Form und durch die roten Klinkersteine, durch die es sich perfekt in die Industrielandschaft des Ruhrgebiets einfügt.
Ort der Stille
Mit über einer halben Million Besucher pro Jahr besitzen diese Gotteshäuser eine beträchtliche Anziehungskraft. Warum sie oftmals ganz gezielt und regelmäßig angesteuert werden, begründet der deutsche Theologe und Verleger Gereon Vogler mit dem ausgeprägten Erholungsbedürfnis der Autobahnbenützer. "Die stark belastenden Stresssituationen, der Wechsel von Überholen mit Überholtwerden sowie der permanente Geräuschpegel berühren psychologisch tief liegende Zonen", bekräftigt Vogler. Als Reaktion auf diese Stressfaktoren werde "Stille für Auge und Ohr" als Wohltat empfunden.
Deswegen ziehen die Besucher seinen Worten zufolge Räume vor, "die keine Ansprüche stellen, die Ruhepunkte für die Augen bieten und Geborgenheit vermitteln".
Dass es mehr katholische als evangelische Autobahnkirchen gibt, begründet Vogler mit dem Umstand, dass Katholiken mit der Praxis des Gebets in sakralen Räumen eher vertraut seien als Protestanten. Während Frauen in normalen Kirchen die Mehrheit bilden, halten sich Frauen und Männer in Autobahnkirchen ungefähr die Waage. Dass sich viele Menschen, die den Gottesdiensten in ihren Wohnorten fernbleiben, bei Umfragen als regelmäßige Autobahnkirchenbesucher bezeichnen, mag überraschen. Gereon Vogler zufolge lässt sich jedoch auch das begründen. Sie haben demnach dort die Möglichkeit, ihren Glauben individuell zu praktizieren.
Während die einzige Autobahnkirche der Schweiz auf dem Rastplatz vor dem Gotthardtunnel geweiht wurde, verfügt Österreich über zwei derartige Gotteshäuser. Bei Poggersdorf in Kärnten erhebt sich die Autobahnkirche Dolina, die auf einen Vorgängerbau aus dem 19. Jahrhundert zurückgeht. Ende der 1990er Jahre wurde das Gotteshaus als Betonbau mit einer vorgestellten Wand als Eingangsfront sowie einer auf Stützen ruhenden Dachkonstruktion völlig neugestaltet.
Neben Wandmalereien in Rottönen besticht die Autobahnkirche durch kunstvoll gestaltete Glasfenster und eine auf das 15. Jahrhundert zurückgehende Holzfigur der Madonna mit Kind. An die legendäre Marienerscheinung, von der drei slowenische Mädchen in dieser Gegend 1849 Bericht abgelegten und die zur Gründung der ersten Kirche geführt hatte, erinnert im Hochaltar ein Bild, das der Maler Peter Marković 1906 schuf.
Ansfelden bei Linz besitzt Österreichs erste Autobahnkirche, sie steht im Stadtteil Haid und wurde 1964 geweiht. Da die finanzielle Lage in Haid damals sehr angespannt war, beteiligten sich viele Einwohner freiwillig an den Bauarbeiten. Die Glasfenster aus der Glasmalerei Schlierbach konnten aus Geldmangel erst in den 1970er Jahren eingebaut werden. Zwei Jahrzehnte darauf hat man den Innenraum umgestaltet und dabei einen lichtdurchfluteten Raum mit hellen Deckenpaneelen und kreisförmig in drei Blöcken angeordneten Sitzbänken rund um den zentralen Altar geschaffen.
Das ursprüngliche Ziel der Haider Kirche St. Mariä Himmelfahrt mit ihrem 42 Meter hohen Betonturm wurde freilich nicht erreicht: "Kirche kennen lernen im Vorbeifahren", lautete damals das Konzept, das die Verbauung des Stadtgebiets in Haid zum Scheitern verurteilte. Heutzutage ist die Autobahnkirche von der Autobahn aus gar nicht mehr sichtbar. Wenn sich Autofahrer dennoch dorthin verirren, zeigen sie das gleiche Verhalten wie in den übrigen Autobahnkirchen. Viel Zeit brauchen sie für ihren Besuch nicht unbedingt, liegt doch die durchschnittliche Verweildauer bei gerade einmal zehn Minuten. Die Straße ruft.
Thomas Veser, geboren 1957, lebt als Journalist und Sachbuchautor in Konstanz. Er ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft "Pressebüro Seegrund".