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Ratlosigkeit in Europas neuem Armenhaus

Von Michael Schmölzer aus Athen

Politik

NGOs wie "Praksis" sind oft die letzte Hoffnung in der Not.


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Athen.

Es ist eine Mischung aus Angst vor der Zukunft und Ratlosigkeit, der man dieser Tage auf den Straßen von Athen begegnet. Am Sonntag soll ein neues Parlament gewählt werden, es folgt der zweite Versuch, eine Regierung zu bilden, die das bankrotte Land wieder handlungsfähig macht. Die Griechen scheinen aber den Glauben daran verloren zu haben, dass ihre Parteien den Weg aus der Krise weisen können. Ein Hauch von Resignation liegt über der Stadt.

Auf dem Syntagma Platz, da, wo vor einem Jahr noch die Zelte der Demonstranten standen, die mit Fahnen und Aufmärschen gegen die Sparmaßnahmen der Regierung demonstrierten, haben jetzt Anhänger der christlich-konservativen Nea Dimokratia (ND) ihre Informationsstände aufgebaut. Doch niemand bleibt stehen, um mit den Funktionären zu diskutieren. Die am Infostand Postierten sind froh, wenn ihnen nur Desinteresse und nicht blanker Hass entgegenschlägt.

"Viele Leute sind extrem wütend", sagt eine Aktivistin, "sie machen uns für die Misere verantwortlich, weil wir so lange an der Macht waren." Deshalb ist ND-Parteichef Antonis Samaras zu Beginn der Woche nur zu einem unangekündigten Blitzbesuch auf dem Platz vor dem Parlament erschienen. Die Anschlagsgefahr sei einfach zu groß, heißt es hier. Vor allem fürchtet man sich vor Syriza, einer Plattform aus Kommunisten, Maoisten und ehemaligen Gewerkschaftern, die diesmal schärfster Konkurrent der Nea Dimokratia im Rennen um Platz eins ist. "Die haben in ihren Reihen einen Funktionär, der jugendliche Anarchisten anleitet, Geschäfte zu plündern und Bomben zu bauen", ereifert sich eine Aktivistin. "Und wenn Syriza wirklich an die Macht kommt, woher kommen dann die Investitionen? Aus Kuba? Oder sponsert uns dann die Al-Kaida?"

Obdachlose suchen Zuflucht in Drogen

In der Stadiou-Straße versammelt sich ein Grüppchen Sozialdemokraten um einen Fernseher. Gezeigt wird eine alte Rede von Pasok-Parteichef Evangelos Venizelos, die sonst niemanden interessiert. Wenige Schritte weiter wühlen zwei Männer im Müll nach Essbarem, einer jung, der andere mit angegrautem Bart. Eine Frau nähert sich, steckt dem Jungen eine Banknote zu. Der legt die Hand ans Herz und verbeugt sich.

Einen Steinwurf weiter befindet sich die Universität. Die juridische Fakultät ist ganz in kommunistischer Hand, Hammer und Sichel zieren alle Fassaden. Die EU gilt hier als nimmersattes Tier, das Griechenland zu Tode hetzt. In den Parks vor der Alma Mater lungern dutzende Obdachlose herum, Griechen und Schwarzafrikaner. Einer packt eine Spritze aus, ein anderer setzt sich vor aller Augen einen Schuss. "Die Konsumation von harten Drogen ist seit neuestem legal", sagt Maria, eine kommunistische Aktivistin, die Flugzettel verteilt. Das Programm ihrer Partei lautet: "Es liegt am Volk, das Volk muss die Sache in die Hand nehmen und sich erheben." In die Regierung will die kommunistische KKE nicht, "nicht mit diesen Kräften". Die bürgerlichen Parteien kommen ohnedies nicht in Frage, Syriza auch nicht: "Die unterscheiden sich ja nicht von den Sozialisten, Parteichef Tsipras ist wie Papandreou", höhnt man hier.

Die rechte LAOS-Partei kämpft unterdessen erbittert um den Wiedereinzug ins Parlament. Wenige tausend Stimmen haben bei der ersten Wahl im Mai zum Erreichen der Drei-Prozent-Hürde gefehlt. Die rechtsextreme "Goldene Morgenröte", eine Fraktion aus der Security-Szene, die in Sachen Law and Order kompromisslos agiert und von vielen Exekutivbeamten gewählt wird, hat LAOS Stimmen gekostet. Man selbst sei patriotisch, sagt der LAOS-Aktivist Fivos, wolle Griechenland den Griechen zurückgeben, lehne gewaltsame Radikallösungen aber ab. In Sachen Schuldenkrise wolle man für Auslandsgeschäfte den Euro beibehalten, im Inland solle die nicht konvertierbare Euro-Drachme eingeführt werden, "damit die Ausländer ihren Lohn nicht mehr außer Landes bringen können", sagt Fivos.

Doch "die Ausländer", Migranten aus Schwarzafrika und Indien, sind längst vom griechischen Arbeitsmarkt verdrängt. Die Arbeitslosigkeit in Griechenland hat die 22-Prozent-Marke erreicht, bei den Jugendlichen ist fast jeder Zweite ohne Job. Um die Gescheiterten kümmert sich die NGO "Praksis", die in der Athener Stournari-Straße ihr Büro hat.

"Der Wohlfahrtsstaat ist kollabiert", stellt Maria Moudatsou, Psychologin und "Praksis"-Mitarbeiterin, fest. "So richtig existiert hat er ja nie, aber jetzt ist es komplett vorbei." Praksis betreibt zwei Krankenhäuser für Nicht-Versicherte und Mittellose in Athen und Thessaloniki, außerdem gibt es in Tageseinrichtungen Hilfe für Obdachlose. "Die Nachfrage", sagt Moudatsou, "hat sich in den letzten zwei Jahren fast verdoppelt".

Mittelschicht zunehmend von Armut getroffen

An Spitzentagen kommen mehr als 100 Menschen in die Tageszentren, wo sie eine Mahlzeit und etwas zu trinken bekommen und duschen können. Früher sei man vor allem mit Flüchtlingen konfrontiert gewesen, "jetzt sind unter unseren Klienten immer mehr Griechen aus der Mittel- und Unterschicht". Die Sozialarbeiterin Ioanna Pertsinidou bestätigt, dass mittlerweile ganze griechische Familien nach der Delogierung auf der Straße sitzen. Wer 50 Tage mit der Miete im Rückstand ist, wird oft schon vor die Tür gesetzt. Tausende, vor allem Immigranten, hausen zudem auf engstem Raum in verfallenen Häusern im Stadtzentrum.

"Praksis" hat ein Hilfsprogramm gestartet, das es in Not geratenen griechischen Familien ermöglichen soll, ihr Heim und ihre Würde zu bewahren. So stellt man Geld für die Mietzahlungen zur Verfügung und hilft bei der Jobsuche. Die finanziellen Mittel für die Hilfsprogramme kommen von der EU - wobei das Geld paradoxer Weise seit der Finanzkrise spärlicher fließt, weil der griechische Staat als Co-Financier ausfällt. Wenn Athen nichts beisteuert, dann zahlt auch Brüssel nicht. Daneben gebe es noch private Spender, auch Firmen helfen, weiß Moudatsou.

Während Griechenland verarmt und immer mehr Flüchtlinge über die löchrige Grenze zur Türkei ins Land strömen, steigt die unkontrollierte Prostitution sprunghaft an. In Athen soll es 700 illegale Bordellbetriebe geben, der Straßenstrich ist berüchtigt. Afrikanerinnen und Osteuropäerinnen teilen das Gebiet um den Omonia-Platz und die Straße des 3. September in Reviere auf. Viele der Prostituierten sind drogensüchtig, die Zahl der Neuinfektionen mit dem HI-Virus und andere Geschlechtskrankheiten nehmen zu. Mittlerweile kommt es schon dazu, dass HIV-infizierte Prostituierte mit Angabe ihres Namens und Passfoto ins Internet gestellt werden, berichtet Maria Moudatsou von "Praksis".

Sie und ihre Kollegin, die Sozialarbeitern Ioanna Pertsinidou, sind aber überzeugt, dass die Griechen die Krise irgendwie bewältigen werden. "Wir geben nicht so schnell auf, auch wenn die Lage schwierig ist", sagt Moudatsou. Pertsinidou hat beobachtet, wie sich ihre Landsleute zu helfen wissen: "Es wird mehr getauscht als früher - ich geb Dir, was ich habe, Du gibst mir, was ich brauche." Wenn jemand das Geld für die teuren Medikamente in der Apotheke nicht vorstrecken kann, dann legen die Nachbarn einfach zusammen.