Ein Essay über die wechselvollen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen und die russische Geschichte, die zwischen den Polen Kontinuität und Revolution schwankt.
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Moskau. "Russland ist ein Rätsel verpackt in ein Geheimnis, umgeben von einem Mysterium", sagte der spätere britische Premier Winston Churchill in einer BBC-Radiosendung am 1. Oktober 1939. Doch wie ist das Rätsel Russland zu entschlüsseln? Und wie das wechselvolle Verhältnis zwischen Russland und Europa?
Einfach ist es nicht: Russlands Geschichte wurde in der jüngeren Geschichte immer wieder von Europa geprägt, wobei Russland immer wieder auf Bedrohungen aus dem Westen antworten musste. Auf Napoleon Bonapartes Russland-Feldzug 1812 folgte nach dessen Niederlage 1814 der Wiener Kongress, wo Zar Alexander I. als erst 35-jähriger den Popstar im Konzert der Nationen zur Neuordnung des Kontinents spielte. Josef Stalin gelang es, im Februar 1945 auf der Konferenz von Jalta, die sowjetische Einflusssphäre vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Niederlage Hitlerdeutschlands dramatisch zu erweitern.
Innenpolitisch ist das an Fläche größte Land der Erde eine verwirrende Mischung aus Kontinuität, revolutionären Brüchen und Tragödien.
Diese Kontinuitäten und Brüche manifestieren sich am Roten Platz, dem wohl symbolträchtigsten Ort Russlands im Herzen von Moskau in Ziegel und Zement: Der prunkvolle Kaufhaustempel Glawny Uniwersalny Magasin, kurz GUM, steht für ungeschminkten, aufdringlichen Kapitalismus, die Kathedrale des seligen Basilius für den Anspruch der russisch-orthodoxen Kirche auf spirituelle Vorherrschaft. Das Lenin-Mausoleum erinnert an die Allmacht des Kommunismus gestern, die gut sichtbaren Türme des Kreml an die Allmacht der politischen Führung von heute. Kommunismus, Kirche, Kapitalismus, Kreml – die vier "K" – sind ein wertvoller Schlüssel zur Enträtselung Russlands.
Eine Geschichte voller Brüche
Und wie steht es mit den Brüchen? Die Februarrevolution von 1917 beendet die Herrschaft des Zarengeschlechts der Romanows, die Oktoberrevolution desselben Jahres markiert unter Wladimir Iljitsch Lenin den Beginn der Diktatur des Proletariats. Lenin wurde übrigens – eine weitere Verwicklung Europas in die russische Geschichte – von Deutschland gegen den gemeinsamen Feind, Zar Nikolaus II. unterstützt. Josef Wissarionowitsch Stalins totalitäre Gewaltherrschaft bringt ab Ende der 1920er Jahre Massenhafte Exekutionen, eine Aushungerung der Ukraine mit Millionen toten, Unterdrückung und Leid. Der Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion bringt das Land fast an den Zusammenbruch, aber letztlich obsiegt die UdSSR und beherrscht nach dem Krieg auch Mitteleuropa. Nach dem Tod Stalins im Jahr 1953 ist die UdSSR unter Nikita Sergejewitsch Chruschtschow ein selbstbewusstes, mächtiges Imperium. Die Kubakrise 1962 bringt die Welt an den Rand eines Atomkriegs zwischen USA und UdSSR, das nukleare Wettrüsten, das Russland finanziell auszehrt, geht trotzdem weiter, es toben auch eine Reihe von gefährlichen Stellvertreterkriegen, die die Sowjetunion militärisch zermürben – unter anderem in Afghanistan. Doch einem Konflikt auf europäischen Boden wollen weder Moskau noch Washington riskieren.
Der Reformer Michail Sergejewitsch Gorbatschow erkennt den dramatischen wirtschaftlichen Niedergang der UdSSR und leitet die Perestroika- und Glasnost-Reformen ein und beendet den seit 1978 andauernden Afghanistan-Krieg. Doch es ist zu spät.
Ost-/Mitteleuropa entgleitet der Kontrolle der Sowjets, Gorbi, wie er im Westen fast liebevoll genannt wird, verkündet am 25. Dezember 1991 um 19 Uhr seinen Rücktritt. "An diesem 25. Dezember 1991 sehen wir ein historisches Ereignis von gleicher Tragweite wie der Zerfall von Österreich-Ungarn im Jahr 1918 oder dem Kollaps des Osmanischen Reichs 1923, ohne dass jedoch ein Krieg oder eine blutige Revolution der Katalysator dafür gewesen war", schreibt der irische Journalist und Buchautor Conor O’Clery in seinem 2011 erschienenen Buch "Moscow, December 25, 1991: The Last Day of the Soviet Union".
Ein paar Monate davor, am 12. Juni 1991 hatte die turbulente Ära von Präsident Boris Nikolajewitsch Jelzin, dem ersten frei gewählten Präsidenten Russlands begonnen. Zu diesem Zeitpunkt ist die Auflösung der Sowjetunion bereits in vollem Gange.
Jelzin verordnet dem Land eine ökonomische Schocktherapie aus Hyperinflation, Liberalisierung und Privatisierung: Ein in der Geschichte des Landes beispielloser Raubzug, bei dem tausende sich die Taschen vollstopfen – die späteren Oligarchen. Millionen verlieren gleichzeitig durch die Hyperinflation ihre kargen Ersparnisse. Aber Jelzin bringt dem Land auch einen bisher nicht gekannten Grad an Freiheit und langsam stellt sich für viele Russen so etwas wie bescheidener Wohlstand ein.
Unter Jelzins Regentschaft beginnt eine Renaissance von Kapitalismus und Kirche. Als er stirbt, ist er der erste russische Politiker an der Staatsspitze seit Zar Alexander III., der in einem Meer von Blumen in einer Kirche aufgebahrt liegt.
Sowjet-Nostalgie
Heute trauert ein Großteil des Establishments der Sowjetunion nach. Präsident Wladmir Wladimirowitsch Putin nannte den Zerfall der UdSSR Jahre später die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts.
Putin, von Jelzin zum Kronprinz erkoren, soll dafür sorgen, dass Jelzin nach seinem Ausscheiden aus der Politik vor der Rache seiner politischen Widersacher und vor Strafverfolgung sicher ist. Es war nicht ganz einfach gewesen, einen geeigneten Erbprinzen zu finden, denn um Jelzin war es bereits einsam geworden, "jeder, der wirkliches politisches Kapital hatte und über Ambition verfügte – also jemand mit einer Persönlichkeit, die für das Amt angemessen war – hatte sich bereits von Jelzin losgesagt", schreibt die in New York lebende russische Journalistin Masha Gessen in ihrer kritischen Putin-Biografie "Der Mann ohne Gesicht: Wladimir Putin. Eine Enthüllung". Putin, ein ehemaliger Geheimagent des KGB, der unter anderem in Dresden in der damaligen DDR Dienst tat, macht zuerst als Stellvertreter des reformorientierten Stadtratschefs von Leningrad, Anatoli Alexandrowitsch Sobtschak auf sich aufmerksam, und wird von Jelzin 1998 auf den Chefsessel des Inlandsgeheimdienstes FSB gehievt. Am 9. August 1999 ernennt Jelzin Putin zum Premierminister. Putins Popularität steigt, bei den Parlamentswahlen am 19. Dezember 1999 sprechen sich fast ein Viertel der Wähler für den Jedinstwo-Block aus, Putins Partei ist damit zur größten Fraktion in der Duma aufgestiegen. Am 31. Dezember 1999 erfahren die erstaunten russischen Bürger von Jelzins Coup: Russland soll mit einem neuen Präsidenten ins neue Jahrtausend gehen. Um Mitternacht taucht Putin auf den Fernsehschirmen auf und hält eine dreieinhalbminütige Rede in der er nichts verspricht und nicht versucht, die Bürger Russlands zu inspirieren. Am Ende seiner Neujahrsansprache fordert er die Zuseher auf, das Glas für ein neues russisches Jahrhundert zu erheben – er selbst hat freilich keines zur Hand.
Putin neutralisiert Oligarchen
Putin eskaliert den Tschetschenien-Krieg, die tschetschenischen Kämpfer sind im Frühjahr 2000 so gut wie aufgerieben. Und nach und nach entledigt Putin sich unliebsamer und in Ungnade gefallener Oligarchen, die sich seiner Meinung nach zu stark in die Politik eingemischt haben. Boris Beresowski, der einst als "Pate des Kreml" galt, übersiedelt im November 2000 gezwungenermaßen nach London. Medienmagnat Wladimir Alexandrowitsch Gussinski flüchtet 2001 nach Spanien. Und Putin-Kritiker und Oligarch Michail Chodorkowski kommt im Jahr 2003 hinter Gitter.
Die Beziehungen zum Westen bleiben von all dem und einer sich stetig verschlechternden Menschenrechtslage unbeeinflusst: US-Präsident George W. Bush sagt bei einem Gipfel zwischen ihm und Putin in Slowenien im Juni 2001, er habe in dessen Seele blicken können und gemocht, was er sah. Nach den Terror-Anschlägen vom 11. September 2001 hilft Russland den von den USA unterstützten Mudschaheddin, die Taliban zu stürzen, die Bande zwischen Russland und dem Westen wurden immer enger. In einer Fernsehsendung sagt der damalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahr 2004 auf die Frage, ob Putin ein "lupenreiner Demokrat" sei: "Ja, ich bin überzeugt, dass er das ist."
Doch der Honeymoon zwischen Russland und dem Westen ist zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon wieder vorbei: Moskau verübelt Washington den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak und den zunehmend aggressiven Unilateralismus der Administration von George W. Bush. Den Nato-Beitritt von Polen, Tschechien und Ungarn im Jahr 1999 hätte Moskau vielleicht noch verwunden, der Beitritt der ehemaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen im Jahr 2004 zum westlichen Militärbündnis geht Russland aber dann doch zu weit, Putin sieht darin später gar einen Wortbruch. 2008 unternimmt Russland eine militärische Strafaktion gegen Georgien, das sich Hoffnungen auf einen Nato-Beitritt gemacht hatte, im Juni 2011 gibt es aber immerhin wieder gemeinsame Manöver zwischen Nato und Russland.
Mit dem eskalierenden Bürgerkrieg in Syrien, in dem Moskau den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad und der Westen die Opposition unterstützt und dem Sturz des prorussischen Präsidenten Präsident Wiktor Janukowitsch im Rahmen der Euromaidan-Protestbewegung verschlechtern sich die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland dramatisch.
Russland annektiert im März 2014 die ukrainische Halbinsel Krim und unterstützt Separatisten in der Ostukraine. Doch Russland treibt mit seiner Aggression gegen die Ukraine ein Land, das stets zwischen Russland und Europa geschwankt ist, in die Arme des Westens. Henry Kissinger – in weniger als zwei Monaten 93 Jahre alt –analysierte die Militäraktion so: Der russische Präsident Wladimir Putin handelt seiner Meinung nach aus "strategischer Schwäche, die er als taktische Stärke tarnt". Anders gesagt: Russland hat die Ukraine an Europa verloren, der Donbass in der Ostukraine und die Krim sind nun der Trostpreis.
Russland habe den westlichen Gesprächspartnern stets signalisiert, dass Moskau nicht dulden würde, dass die Ukraine in die westliche Einflusszone gerät, sagt der stellvertretende Direktor des Rats für Außen- und Verteidigungspolitik und Mitglied des einflussreichen Valdai-Klubs Dmitri Suslov im Gespräch mit der "Wiener Zeitung": "Die Ukraine wird daher ein Störfaktor in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen bleiben". Suslov sagt, dass die EU und Russland sich nun "in einer strategischen Stagnation, die wir kurz- oder mittelfristig nicht überwinden können" befinden, beide Blöcke würden zu unterschiedlichen politischen und auch wirtschaftlichen Sphären gehören. "Das Problem ist, dass wir immer noch unterschiedliche Visionen von Europa und den europäisch-russischen Beziehungen haben." Denn die EU verfolge ein euro-zentrisches Modell: Demnach verstehe sich die EU als jenes Gravitationszentrum, um das alle anderen – Ukraine, Weißrussland und Russland kreisen sollen, kritisiert Suslov. "Russland weist diese Vision zurück, wir wollen, dass die EU uns auf Augenhöhe begegnet – aus unserer Sicht gibt es zwei Gravitationszentren – die EU und Russland. Es ist aber unwahrscheinlich, dass eine Seite ihre Position verändert. Die EU vertieft ihre Beziehungen mit TTIP, Russland arbeitet an der eurasischen Union und der Renaissance der Seidenstraße – wir driften auseinander."
In der Nahostpolitik gebe es eine Annäherung. Die USA hätten erkannt, dass es zum syrischen Präsidenten Baschar al-Assad keine demokratische Alternative gibt, daher würden Russland und die USA nun kooperieren. Ein Grund dafür sei laut Suslov das Verhalten der Türkei gewesen. Denn der Abschuss eines russischen Jets durch Ankara habe gezeigt, wie nah man einer Nato-Russland-Konfrontation kommen kann – also habe man auf Deeskalation gesetzt: "Russland sollte Recep Tayyip Erdogan also dankbar sein." Die Verhinderung des Falls von Assad und das Erreichen einer Verhandlungslösung habe zudem der Serie von gewaltsamen Regime-Change-Prozessen von außen ein Ende gesetzt – Russland sei es nicht zuletzt darum gegangen, die Spielregeln wieder zu verändern. Der russische Analyst und Außenpolitik-Experte Konstantin von Eggert sieht die Politik des Kremls im "Wiener Zeitung"-Gespräch in einem Café in Moskau kritisch: Russland sei heute an einer Schwächung der EU gelegen und daran, in der Ukraine ein "kontrollierbares Chaos" am köcheln zu halten. "Jeder Erfolg pro-europäischer Reformen in Kiew ist für Russland toxisch", sagt Eggert, denn das würde auch in Moskau Hoffnungen auf einen solchen Kurs wecken. Putin erinnert den Nahost-Experten Von Eggert immer mehr an die letzten Jahre des Schahs von Persien: "Er ist mehr und mehr abhängig von Öl und Gaseinkünften. Aber der Schah hatte einen Pluspunkt: Er hatte bis zuletzt gute Beziehungen ins Ausland. Russland hat heute sehr schlechte Auslandsbeziehungen. Aber Putin hat auch ein Plus: Es gibt keinen Russischen Khomeini."
Zuletzt standen die Zeichen aber wieder auf Entspannung: Nach zweijähriger Pause wollen die Nato und Russland ihre Zusammenarbeit wieder aufnehmen, kündigt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg an – das erste Treffen dieses Gremiums seit 2014. "Eine Rückkehr zur Normalität wird es aber nicht geben, solange Russland nicht das Völkerrecht respektiert", sagt Stoltenberg und spielt damit auf die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland an.
Sergei Markedonov ist Direktor am Institut für politische und militärische Analysen in Moskau. Er ist gerade auf einem Weg zu einer Konferenz in Berlin und schlägt daher einen Treffpunkt in der Wartenhalle des Flughafen-Expresszugs am Belorusskaja-Bahnhof vor. Er hält nichts vom Gerede eines neuen Kalten Kriegs: "Der Kalte Krieg war ein Blockkonflikt unterschiedlicher Ideologien. Russland wollte damals revolutionäre Bewegungen exportieren, heute hält man nicht mehr viel von so etwas. Wir sitzen hier am weißrussischen Bahnhof, an so einem Ort möchte ich daran erinnern, dass, die Gefährdung für Russland immer aus dem Westen kam: Sei es durch Napoleon oder durch Hitler. Russland braucht gute Beziehungen Richtung Westen." Es gehe heute laut Markedonov nicht mehr darum, "die Amerikaner drinnen zu halten, die Russen draußen und die Deutschen niederzuhalten", wie Churchills Militärberater Hastings Ismay in den 1950er Jahren und späterer Nato-Generalsekretär gesagt haben soll. Die Frage, die Russland und der Westen sich stellen sollten: Welche Rolle wollen beide für die Ukraine? Soll das Land eine Wasserscheide oder eine Brücke werden –Markedonov plädiert für die Brücke.
Churchill bot bei seiner Radiorede vom Oktober 1939 jedenfalls eine Entschlüsselung des in ein Geheimnis verpackte und von einem Mysterium umgebenen Rätsel Russland an: "Aber vielleicht gibt es einen Schlüssel. Dieser Schlüssel ist das nationale Interesse Russlands."