Das Camp Barhaka ist ein Abbild des Mosaiks der Minderheiten, die sich vor dem IS in Sicherheit bringen mussten.
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Baharka Camp. Während der "Islamische Staat" in der Region Mosul langsam zurückgedrängt wird, bleibt das Zusammenleben in der Region vergiftet. An eine Rückkehr der Vertriebenen in die befreiten Gebiete ist derzeit noch nicht zu denken.
"Nein, ich weiß nicht, wie wir mit unseren Nachbarn noch leben sollen." Birgül ist mit ihrem Mann und ihren drei Kindern Anfang August aus Tal Afar in Richtung der kurdischen Hauptstadt Erbil geflüchtet. Heute lebt sie mit 542 anderen Familien im Baharka Camp, eine halbe Stunde außerhalb Erbils in einer alten Lagerhalle. Wer in dieser sein Zelt aufschlagen konnte, kann sich glücklich schätzen. In den Lagerhallen ist es nicht so feucht wie in den Zelten außerhalb. Man versinkt zumindest nicht völlig in Schlamm und Fäkalien. Tal Afar wurde bis zum August 2014 zu zwei Dritteln von schiitischen Turkmenen bewohnt. Als die Dschihadisten des selbsternannten "Islamischen Staates" die Stadt überrannten, mussten diese Hals über Kopf die Stadt verlassen, um Letzteren nicht zu verlieren: "Schiiten, die nicht schnell genug wegkamen, wurden einfach erschossen oder enthauptet." berichtet ein älterer Mann. "Wir haben dann später die Bilder davon im Internet gesehen."
Das Entsetzen über die Verbrechen des IS und die Angst vor der Zukunft steht hier den Menschen immer noch ins Gesicht geschrieben. Was Birgül bis heute nicht versteht, sind aber weniger die fremden Kämpfer, die in die Stadt gekommen sind, als das Verhalten ihrer Nachbarn: "Unsere sunnitischen Nachbarn, mit denen wir gemeinsam aufgewachsen sind, haben unser Haus ausgeraubt. Wir wissen, wer unsere Sachen gestohlen hat und wer jetzt unter den neuen Herrschern reich geworden ist. Glauben Sie, dass wir mit diesen Leuten jemals wieder zusammenleben können?"
Im Baharka Camp kann man hunderte solcher Geschichten hören. Seit der Eroberung der Stadt durch den IS geht ein unübersehbarer konfessioneller Riss durch die dortigen Turkmenen. Während sich die sunnitischen Turkmenen überwiegend auf die Seite der neuen Herren gestellt und sich den Besitz der geflohenen schiitischen Turkmenen angeeignet haben, sitzen Letztere seit Monaten in den Flüchtlingslagern und warten darauf, in ihre Heimat zurückkehren zu können. Einige sunnitische Turkmenen aus Tal Afar stiegen im Machtapparat des IS auf und brachten es zu wichtigen Funktionen.
Politische Spaltung der Turkmenen
Die politische Spaltung der turkmenischen Minderheit des Irak geht schon auf die Jahre nach 2003 zurück. Die Türkei hatte nach dem Sturz Saddam Husseins versucht, die turkmenische Minderheit für sich zu vereinnahmen und ihren eher dem Azeri nahestehenden Dialekt dem eigenen Türkentum einzugemeinden. Eine von der Türkei unterstützte Partei, die Turkmenische Front, konnte in Tal Afar und Kirkuk fast ausschließlich unter den sunnitischen Turkmenen Fuß fassen. Die schiitischen Turkmenen wendeten sich schiitischen oder pro-kurdischen turkmenischen Parteien zu. Mit der Übernahme Tal Afars durch den IS wurden aus den Türkischen Nationalisten der Turkmenischen Front plötzlich Dschihadisten. Als Sunniten konnten sie nun als Teil der Herrscherschicht agieren.
Im Baharka Camp sind allerdings nicht nur schiitische Turkmenen gelandet. Das Camp bildet ein Abbild des Mosaiks der Minderheiten, die sich vor dem IS in Sicherheit bringen mussten. Während Jesidi und Christen meist in eigenen anderen Camps untergebracht sind, stellt dieses Camp ein Auffangbecken aller anderen dar. Hier sind Kakai, Schabak, schiitische Araber und sogar einige Palästinenser untergebracht, die noch von Saddam Hussein in Mosul angesiedelt worden sind.
Sechs Dörfer mit Kakai gab es bis zum August in der Ninive-Ebene östlich von Mosul. Hätten sich die Kakai nicht rechtzeitig hier in Sicherheit gebracht, hätte wohl kaum jemand von ihnen überlebt. Für den IS gelten auch sie als abtrünnige Schiiten, die damit dem Tod geweiht sind. "Um zwei Uhr nachts haben uns die Peschmerga verständigt, dass sie aus der Region abziehen", erzählt Madjo Husam, ein junger Kakai mit dem für die männlichen Angehörigen seiner Religion sehr charakteristischen wild wuchernden, nach unten gezogenen Schnauzbart: "Wir hatten schon seit Tagen das wichtigste in unser Auto gepackt und sind dann mitten in der Nacht hierher gefahren."
Die Religion der Kakai - auch Yaresan oder Ahl-e Haqq genannt - hat eine sehr enge Beziehung zum jeweiligen Land ihrer Gläubigen. Für die Kakai sind heilige Orte, Steine oder Quellen von enormer Bedeutung. Viele dieser Vorstellungen sind von vorislamischen Traditionen übernommen. Ihre religiöse Praxis ist kaum vom konkreten Naturraum loszulösen. Dies hinterlässt auch Spuren bei den Angehörigen dieser Religion hier im Camp. Kaum eine Gruppe drängt mehr darauf, wieder in die ursprünglichen Dörfer zurückzukehren. Für Madjo Husam ist klar: "Wenn ich nicht in mein Dorf zurückkehren kann, dann werde ich ganz gehen. Dann versuche ich lieber einen Neuanfang in Deutschland oder Amerika als hier in Erbil."
Politische Differenzen verschwinden im Camp
Die größte Flüchtlingsgruppe hier sind allerdings die Schabak, eine der komplexesten Minderheiten des Irak. Von europäischen Religionswissenschaftern und Kurdologen wurden sie meist als religiöse Minderheit, als weitere heterodoxe Gruppe des schiitischen Islam betrachtet. Sie selbst sehen sich heute eher als ethnische Minderheit. Zweifelslos gab es unter den Schabak eine Reihe von heterodoxen religiösen Praxen, die nicht der religiösen Praxis der Zwölferschia, also der Hauptströmung der Schiiten, entsprechen. Auch die Schabak verehren lokale Orte und treiben lokale Heiligenverehrung wesentlich weiter, als es bei den Schiiten sonst üblich ist. Durch den konfessionalisierten Bürgerkrieg zwischen 2004 und 2007 im Irak und die politische Neuordnung entlang konfessionell-ethnischer Konfliktlinien sahen sich die Schabak allerdings gezwungen, sich größeren Gruppen anzunähern und sich entweder zum Sunnitentum oder zum Schiitentum zu bekennen. Heute sehen sich etwa zwei Drittel der Schabak als Schiiten und ein Drittel als Sunniten.
"Sie verfolgen uns als Kurden", erklärt Khaled Mahmud vom "Schabak Komitee", das der in der Regionalregierung Kurdistans regierenden Demokratischen Partei Kurdistans von Präsident Masoud Barzani nahesteht. Er vertraut den kurdischen Peschmerga und misstraut den Amerikanern, die er verdächtigt hinter dem IS zu stehen. Von Seiten der pro-schiitischen Partei unter Hunain al-Qaddo klingt das anders. Der im irakischen Parlament in Bagdad sitzende Abgeordnete der im schiitischen Parteienblock integrierten "Demokratischen Versammlung der Schabak" hofft immer noch, dass der Irak als Gesamtstaat erhalten wird und die Minderheiten der Ninive-Ebene eine gemeinsame autonome Provinz bilden können. Während die pro-kurdische Partei von Khaled Mahmud den Anschluss an die Autonomieregion Kurdistans propagiert, wollen sich die pro-schiitischen Schabak eher mit den Christen und Jesiden der Ninive Ebene zusammentun, um ihre eigene Autonomie zu etablieren.
Im Baharka-Camp verschwinden solche politischen Differenzen. Die Flüchtlinge hier, ob Schiiten oder Sunniten, Schabak, Turkmenen oder Kakai, sind hier auf die essenziellsten Fragen zurückgeworfen. Nachdem die Kinder seit Monaten nicht mehr in die Schule gehen konnten, soll nun eine provisorische Schule errichtet werden und die Barzani-Foundation will in den nächsten Wochen die notdürftigen Zelte durch 304 von der UNO zur Verfügung gestellte Container ersetzen. Die militärischen Erfolge gegen den IS lassen immer mehr Vertriebene hoffen, dass dies zumindest der letzte Winter im Zelt sein wird. Tal Afar ist weiter unter Kontrolle des IS. Ob Birgül und ihre Familie nach einer Befreiung in ihre Heimatstadt Tal Afar zurückkehren würde? "Solange der IS in Mosul sitzt, sind wir nicht sicher. Die sunnitischen Nachbarn, die unsere Häuser geplündert haben, sind dann ja auch alle noch hier. Wie sollen wir mit diesen wieder zusammenleben?"
Thomas Schmidinger ist Politikwissenschaftler und Sozial- und Kulturanthropologe und Lektor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.