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Politik zielt oft, zu oft nur noch darauf ab, die moralische Integrität der Gegner zu diskreditieren.
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Die meisten Menschen machen sich keine, jedenfalls keine richtige Vorstellung von der Belastung, unter der Politikerinnen und Politiker der ersten, mitunter auch der zweiten Reihe stehen. Druck bis an die Grenzen der Belastbarkeit - und darüber hinaus - gibt es auch in anderen Bereichen. Aber nur in der Politik verschwimmen und eigentlich verschwinden die Grenzen zwischen der Rolle, die jeder Politiker einnimmt, und dem Menschen.
Wer einen Politiker bewertet, tut dies nicht nur in Bezug auf dessen öffentliche Rolle, sondern trifft auch ein Urteil über dessen Charakter und ganze Persönlichkeit mit allem, was dazu gehört, von der individuellen Moral über Aussehen und sonstige Äußerlichkeiten bis zur Lebensführung. Das geschieht nicht bei jedem im gleichen Ausmaß; insbesondere was Äußeres, Mimik, Gestik angeht, gibt es teils deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Aber wer in der Politik ganz nach oben will, hat keine Wahl, als sich diesem all-
öffentlichen Scherbengericht 24 Stunden sieben Tage die Woche an 365 Tagen im Jahr auszusetzen. Politik ist ein Non-Stopp-Job, wie es nur wenige andere gibt.
Die in der Logik der Digitalisierung angelegte Emotionalisierung von Politik führt dazu, dass sachpolitische Differenzen längst nicht mehr im Zentrum der politischen Auseinandersetzung stehen. Diese sind höchstens noch ein Aufhänger unter anderen, um den Gegner und dessen Haltung moralisch zu diskreditieren. Unter sich weiß die "classe politique" dies zu unterscheiden, aber die geschürten Emotionen können überschwappen und bis zu Drohungen gegen Politiker und deren Familien gehen, wie die Erfahrungen aus der Pandemie gelehrt haben.
Diese Entwicklung kommt einer Brunnenvergiftung der Politik als Beruf gleich. Nicht nur, dass immer öfter Spitzenpolitiker unter dieser Belastung gesundheitlich Schaden zu nehmen drohen, wie nun Vorarlbergs Landeshauptmann Markus Wallner; noch gravierender ist die abschreckende Wirkung auf Menschen, die damit liebäugeln, sich in der Politik für die Gesellschaft zu engagieren. Auf Dauer betreibt eine so verstandene Politik Raubbau an der Demokratie. Und niemand, der daran mitwirkt, nicht die Parteien, nicht die Medien, nicht die Aktivisten, kann sich aus der Verantwortung stehlen.
Das spricht nicht dagegen, Auseinandersetzungen in der Politik mit der gebotenen Härte und Konsequenz öffentlich auszutragen. Aber diese notwendigen Konflikte brauchen Grenzen, die dort verlaufen, wo die persönliche Integrität des Politikers als Mensch angegriffen wird.