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Raubbau an der Landschaft

Von Reinhard Seiß

Reflexionen

In Österreich wird jedes Jahr fruchtbares Land größer als das Stadtgebiet von Salzburg zersiedelt und verbaut.


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Wohlstand und ökologische Sorglosigkeit führten zur Ausdehnung der Siedlungsräume.
© Seiß

Nirgends in Europa wird so viel fruchtbares Land für die Siedlungsentwicklung verbraucht wie in Österreich: 7300 Hektar sind es Jahr für Jahr - ein Terrain, größer als das Stadtgebiet von Salzburg. So verschwinden per anno 0,5 Prozent unseres landwirtschaftlichen Bodens. In Deutschland und der Schweiz ist es nur halb so viel. Laut Umweltbundesamt haben wir in den letzten 50 Jahren rund 300.000 Hektar Bauernland für Wohnhäuser, Supermärkte, Gewerbehallen, Straßen, Parkplätze und vieles andere mehr in Anspruch genommen.<p>Auch das spiegelt wider, wie ernsthaft umwelt- und planungspolitische Aufgaben hierzulande und demgegenüber in vergleichbaren Staaten wahrgenommen werden. Zwar beschloss die Österreichische Bundesregierung 2002 in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie eine drastische Reduktion des täglichen Bodenverbrauchs bis 2010 um fast 90 Prozent - tatsächlich nahm er seither aber um weitere 22 Prozent zu. Dieser Umgang kann nicht mehr nur als verschwenderisch bezeichnet werden, er ist in hohem Maße verantwortungslos. Boden ist selbstredend nicht vermehrbar, fruchtbarer Boden schon gar nicht.<p>

Die "fünfte Fruchtfolge"

<p>Bis in die 90er Jahre wurde die recht großzügige Umwidmung von Grünland in Bauland von Raumplanern oft spöttisch als "fünfte Fruchtfolge" bezeichnet, da sie - in Anlehnung an die produktivitätssteigernde Drei- oder Vierfelderwirtschaft - als ultimative Bodenwertsteigerung unzähligen Bauern millionenschwere Erträge einbrachte. Heute zeigen sich zumindest die offiziellen Vertreter der heimischen Landwirtschaft längst besorgt über den Schwund an Agrarflächen durch den Bodenfraß unserer Gesellschaft, zumal die Möglichkeit der Eigenversorgung Österreichs in akuter Gefahr ist.<p>Man könnte angesichts mancher unbewirtschafteter oder verwaldender Flächen meinen, dass nach wie vor genügend Grünland vorhanden sei. Doch sind unsere Städte und Dörfer inmitten der fruchtbarsten Böden entstanden: Bis ins frühe 20. Jahrhundert lebten sie von der unmittelbaren Nähe zu den Wiesen und Feldern, die Arbeit und Nahrung boten. Mit dem Bedeutungsverlust der Landwirtschaft und dem gleichzeitigen Aufkommen der Automobilisierung verlor diese räumliche Bindung schlagartig ihre Bedeutung. Zunehmender Wohlstand und ökologische Sorglosigkeit führten zu einer raschen Ausdehnung unserer Siedlungsräume - fatalerweise genau auf jenen Flächen mit der höchsten Bodengüte.<p>Doch nicht nur aus landwirtschafts- und umweltpolitischer Sicht ist die Vergeudung von Boden ruinös: Je sorgloser das Tourismusland Österreich seine Landschaft zersiedelt, umso mehr schwächt es die Basis eines seiner wichtigsten Wirtschaftszweige. Volkswirtschaftlich folgenschwer ist der Bodenverbrauch auch durch die extensive Besiedelung: Weitläufige Wohn- und Gewerbegebiete fernab der Ortszentren ziehen immense öffentliche Ausgaben für die Errichtung und Erhaltung der Verkehrs- und Siedlungsinfrastruktur sowie für die soziale Versorgung nach sich. Es wird schnell klar, dass die überfällige Einschränkung unseres Flächenkonsums nicht von einem Ressort allein veranlasst oder auf nur einer politischen Ebene bewerkstelligt werden kann.<p>So wäre es etwa Aufgabe der Raumordnungspolitik der Länder, endlich auf einer disziplinierten Flächenwidmungsplanung der Gemeinden zu beharren - mit klaren Siedlungsgrenzen, mit Rückwidmungen des immensen Baulandüberhangs sowie mit einem Umwidmungsverbot von Flächen mit hoher Bodengüte. Flankierend müssten die inzwischen bestehenden Instrumente zur Mobilisierung gehorteten Baulands zwingend Anwendung finden. Die Gemeinden sollten schon bei der Parzellierung des Baulands für deutlich kleinere Grundstücksgrößen sorgen, da sich ansonsten verdichtete Bauformen am Land niemals durchsetzen - und Ziele wie ein täglicher Bodenverbrauch von bloß 2,5 Hektar (statt 20) auf ewig Illusion bleiben.<p>Die Wohnbaupolitik der Länder müsste bodensparendes Bauen zur Bedingung für die Gewährung von Wohnbauförderung machen. Selbiges gilt für die Wirtschaftspolitik und ihre Subventionierung von Betriebsansiedlungen. Die Bundesfinanzpolitik wiederum müsste den Finanzausgleich dahingehend reformieren, dass die Kommunen nicht mehr nur für Wachstum um jeden Preis belohnt werden: Ähnlich den Stilllegungsprämien in der Landwirtschaft, sollten Gemeinden profitieren können, wenn sie ihren Boden zum Wohle der Allgemeinheit vor jedweder Verbauung freihalten.<p>Zudem müssten die Bürgermeister vom ruinösen und flächenintensiven Wettlauf um die Kommunalsteuer befreit werden, dem wir eine Unzahl überflüssiger oder zu groß dimensionierter Gewerbestandorte verdanken. Laut Umweltbundesamt bestehen in Österreich 130 Millionen Quadratmeter ungenutzte lndustrie- und Gewerbehallen. Berücksichtigt man auch alle leerstehenden Wohn-, Büro- und Geschäftsimmobilien, kommt man auf 500 Millionen Quadratmeter brachliegender Nutzfläche. Längst müssten sämtliche öffentliche Entwicklungsanreize auf die Sanierung, Verdichtung und Umnutzung der bestehenden Bebauung statt auf Neuansiedlungen abzielen.<p>

Dichter Einzelhandel

<p>Eine bundesweite Regulierung des Markts wiederum ist im Einzelhandel vonnöten: Österreich hat mit 1,9 Quadratmetern Verkaufsfläche pro Kopf die mit Abstand höchste Einzelhandelsdichte aller EU-Staaten. Deutschland auf Platz zwei kommt mit lediglich 1,4 Quadratmetern aus, Großbritannien gar mit nur 0,7. Zudem sind in der BRD nur 17 Prozent des Handels flächenintensiv "auf der grünen Wiese" situiert - in Österreich dagegen 51 Prozent.<p>Um dieses Bild abzurunden, sei noch angeführt, dass bei den heimischen Kaufhäusern, Supermärkten, Fachmarktzentren und Shopping Malls 2,8 Millionen Stellplätze auf die rund 4 Millionen PKWs der Österreicher warten - fast ausschließlich zu ebener Erde anstatt mehrgeschoßig ober- oder unterhalb der meist eingeschoßigen Handelsbauten.<p>Auch im Straßenbau sind wir Europameister. Während dem VCÖ zufolge auf jeden von uns 15 Meter Straße entfallen, findet der statistische Durchschnittsbürger in Deutschland und der Schweiz mit jeweils acht Metern sein Auslangen. Österreich hat eines der dichtesten Autobahn- und Schnellstraßennetze Europas - und folglich auch mit den höchsten Motorisierungsgrad. Die heimischen Stellplatzverordnungen tun mit ihren großzügig bemessenen Mindeststellplatzzahlen ein Übriges, dass die Summe aller Autoverkehrsflächen in diesem Land bereits der Fläche Vorarlbergs entspricht - und täglich um drei Hektar wächst. All dem müsste die Verkehrspolitik des Bundes und der Länder als Beitrag zum Bodenschutz entgegenwirken.<p>Die möglichen Maßnahmen reichen von der Einführung einer unabhängigen Bedarfsprüfung für geplante Verkehrswege, die bis dato oft ohne wirkliches Erfordernis auf Zuruf des Landeshauptmanns errichtet werden - und erstrecken sich über eine Begrenzung der Straßenbreiten bei neuen Projekten bis hin zum Rückbau bestehender Verkehrswege und Stellplätze. Zuvorderst gilt es aber, den Autoverkehr soweit zu verteuern, dass die von ihm verursachten öffentlichen Kosten durch die Steuern und Abgaben der Autofahrer gedeckt werden. Dies würde eine überfällige Attraktivierung des öffentlichen Verkehrs ermöglichen, der um ein Vielfaches bodensparender organisiert werden kann.<p>Da Österreichs Politik im Bereich Siedlungsentwicklung und Verkehr nur schwer für Gebote und Verbote zu gewinnen ist, läge es nahe, über finanzielle Instrumente zu versuchen, Veränderungen herbeizuführen. Beispielsweise könnte von Flächengroßverbrauchern wie Handels- und Gewerbebetrieben im Zuge der Baugenehmigung eine Art Kaution verlangt werden - für den Fall, dass das Unternehmen den Standort schon nach wenigen Jahren wieder aufgibt und ihn als "Altlast" der Landschaft hinterlässt.<p>Eine striktere Maßnahme wäre, Baugenehmigungen auf "green fields", also unberührtem Grünland, nur dann zu erteilen, wenn entweder nachweislich keine "brown fields", kein brachgefallenes Bauland, für die Nutzung in Betracht kommen - oder wenn im selben Umfang andernorts Gewerbebrachen wiederbegrünt werden. Mit einer progressiven Gestaltung der Grundsteuer und der Abwassergebühren wiederum könnten - auch im Wohnbau - flächenintensive Siedlungsformen beziehungsweise unnötige Bodenversiegelung verteuert und im Gegenzug bodenschonende Bebauungsformen belohnt werden.<p>

Das Vorbild Schweiz

<p>Wie so oft, ist hier ein Blick in die Schweiz lohnend, deren Siedlungsentwicklung sich jahrzehntelang nicht grundsätzlich von jener in Österreich unterschieden hat. Ende der 90er Jahre hat man in unserem westlichen Nachbarland allerdings die Zeichen der Zeit erkannt - und die Raumordnungs- und Verkehrspolitik Schritt für Schritt nachhaltig gestaltet, auch zum Schutz des Bodens. Bei den Eidgenossen ist nachhaltige Entwicklung kein politisches Lippenbekenntnis, sondern ein in Artikel 2 der Bundesverfassung festgeschriebenes Staatsziel - ebenso, wie die Verfassung den Bund, die Kantone und Gemeinden gemeinsam zu einem "haushälterischen" Umgang mit dem Boden verpflichtet.<p>Interessanterweise wird die Politik bei der Umsetzung dieses Auftrags von der Bevölkerung zu restriktiveren Vorgangsweisen gedrängt. Bei einer Volksinitiative stimmten die Bürgerinnen und Bürger des Kantons Zürich 2012 dafür, in den nächsten 20 Jahren kein neues Bauland mehr zu widmen sowie alle Bauerwartungsgebiete aufzuheben. Ziele wie die Ernährungssouveränität des Landes oder eine energie- und emissionssparende "2000-Watt-Gesellschaft" wären - so die Mehrheitsmeinung im Stimmvolk - bei Fortschreibung der bisherigen Siedlungsentwicklung nicht erreichbar. Allem voran in der Metropole Zürich bewirkte das Referendum eine beeindruckende Neuorientierung der Stadtentwicklung, die kompromisslos auf Umnutzung, Durchmischung und Nachverdichtung, insbesondere von bisher gewerblich dominierten Stadtteilen setzt.

Am 5. Dezember ruft der alljährliche "Weltbodentag" zum sorgsamen Umgang mit der natürlichen Ressource "Boden" auf.

Reinhard Seiß ist Raumplaner, Filmemacher und Fachpublizist in Wien und Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung.