Zuerst sollten dort Seidenraupen gedeihen, doch die mochten das Berliner Klima nicht. Nach dem Krieg wurden hier Radieschen gepflanzt und heute residiert dort der Bundespräsident.
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Eine der ersten Amtshandlungen des neuen Staatsoberhaupts Christian Wulff war die Begrüßung und Bewirtung von 5000 Gästen gestern Abend im Park des Schlosses Bellevue.
Erster Amtssitz des deutschen Präsidenten (neben der Bonner Villa Hammerschmidt) ist seit 1994 dieses Schloss "zum schönen Blick". Vor genau 300 Jahren überließ der Vater Friedrichs des Großen das Gelände den Hugenotten mit der Maßgabe, eine Maulbeer-Plantage anzulegen und Seidenraupen zu züchten. Preußen wollte sich vom Import unabhängig machen. Doch daraus wurde nichts, weil die Raupen die Berliner Luft offenbar nicht so schätzten wie die spätere Paul-Lincke-Generation.
Heute erinnern nur noch zwei Maulbeerbäume im Schlosspark an den ehrgeizigen Plan des Königs. Sein Sohn, der große Friedrich, änderte die Nutzung und ließ 1786 ein Lustschloss für seinen jüngeren Bruder, Prinz Ferdinand, errichten. Bis zu seinem Tod 1813 nutzte der kränkliche Prinz Bellevue als Lustschloss für sich selbst und als Landsitz für seine königliche Familie.
Im Grundriss waren Schloss und Park noch barocken Mustern gefolgt, doch der Bau selbst mit dem flachen Giebel über dem Portal-Risalit und seinen Pilastern atmet schon den Geist des frühen Klassizismus. Die herrliche Lage zwischen dem Großen Tiergarten, einst königliches Jagdrevier, heute Central Park von Berlin, und der Spree ermöglichtedurchzahlreicheSichtachsen den Blick auf andere SchlösserundParks,was den Schlossnamen rechtfertigt.
In den folgenden Jahrzehnten erlitten Park und Schloss ein äußerst wechselvolles Schicksal. Mitte des 19. Jahrhunderts beherbergte der mittlere Flügel eine Art vaterländischer Bildergalerie. Danach wurde der Bau zwischenzeitig wieder vom preußischen Hof genutzt. Im Ersten Weltkrieg diente es der Obersten Heeresleitung als Sitz, danach stand es überhaupt leer. Weitere Umnutzungen folgten Schlag auf Schlag: Nacheinander zogen hier Büros, Volksküchen, Ausstellungen, Wohnungsmieter, Hitlers Gästehaus und Hitlers Präsidialkanzlist ein, bevor es im Zweiten Weltkrieg zerbombt wurde und ausbrannte.
Der Park wurde parzelliert und zum Gemüseanbau genutzt. Anstelle der Maulbeerbäume wuchsen nun Salat und Radieschen auf barockem Gelände. In den 50er Jahren baute man das Schloss als provisorischen Amtssitz des Bundespräsidenten wieder auf, weil man damals noch von der Fiktion eines geeinigten Deutschland ausging - allerdings im Stil der 50er, in einer Mischung aus "Filmstar-Sanatorium" und "Eisdiele", wie Kritiker damals meinten.
Im Zehnjahresrhythmus - 1986, 1996, 2006 - erfolgten weitere Umbauten und Sanierungen. Sogar eine 94 Quadratmeter große Wohnung wurde eingerichtet. Der Einzige, der sie auf Dauer bewohnte, Roman Herzog, nannte sie jedoch eine "Bruchbude", weil ständig etwa Strom oder Heizung ausfielen.
Heute sind die Arbeiten am Schloss vollendet - überwacht von einem österreichischen Architekten - und dennoch muss sich Wulff eine andere Wohnung suchen. Das sparsam und doch erlesen ausgestattete Gebäude erfüllt nur noch repräsentative Zwecke. Das Ehepaar Bettina und Christian Wulff mit seinen drei Kindern, Linus Florian (2), Leander (7) und Annalena (16) wird sich wohl in Dahlem im südlichen Nobelviertel Berlins eine Wohnung suchen müssen.
Das "fröhliche Kindergeschrei im Schloss", von dem Kanzlerin Merkel schwärmte, beschränkt sich wohl auf die jährlichen Sommerfeste, auf denen die Präsidentenkinder immer gern "debütieren".
Markus Kauffmann, seit rund 25 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.