Wie sicher ist es, zu öffnen? In Ländern wie Großbritannien sind echte Veranstaltungen das Corona-Testfeld geworden.
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Die Broad Street, heute Broadwick Street, in London war 1854 kein guter Ort, bis John Snow den Hebel einer dort befindlichen Wasserpumpe entfernen ließ. Durch Gespräche mit den Einwohnern des Grätzels hatte der Arzt herausgefunden, dass die Pumpe die Ursache für den neuerlichen Ausbruch der Cholera-Epidemie war, die die britische Hauptstadt Mitte des 19. Jahrhunderts mehrmals heimsuchte. Snow konnte auf Basis der Gespräche, von Beobachtungen und Statistik die Infektionswege nachvollziehbar machen und kam so auf die Pumpe als den Infektionsherd der aktuellen Cholerawelle.
Live-Event statt Petrischale
Die zeitweilige Entfernung des Hebels gilt als Geburtsstunde der Epidemiologie, der Wissenschaft von der Verbreitung und den Ursachen einer Erkrankung.
Die Wasserpumpe und die Cholera sind ein Grund, warum es in Großbritannien eine besonders ausgeprägte Tradition von "Public Health", "Öffentliche Gesundheit", gibt und erklärt wohl auch, warum ausgerechnet die britische Insel als eine der Ersten die Corona-Forschung aus Labor und Petrischale herausgeholt hat: Im "Research Events Programme", das seit Ende März läuft, werden Live-Veranstaltungen mit Publikum - Fußballspiele, Theater-Aufführungen und Konzerte - als Feldlabore genutzt, um die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen dort zu messen, wo sie eingesetzt werden: im echten Leben.
"In Österreich haben wir das leider nicht geschafft. Wir fischen nach 15 Monaten Pandemie nach wie vor im Trüben, statt die Grundlagen zu schaffen, damit wir klare, zielgerichtete Entscheidungen treffen können", sagt Gerald Gartlehner, Epidemiologe der Donau-Universität Krems. Dem Mediziner ist die Frustration anzumerken: "In Österreich haben die Kulturbetriebe Präventionskonzepte entwickelt, sie wurden trotzdem ständig zugesperrt und niemand hat auch nur im entferntesten daran gedacht, einmal wissenschaftlich zu evaluieren, ob das funktioniert oder nicht." Auch die "Modellregion" Vorarlberg, wo Mitte März Lockerungen in Kraft traten, ist aus Gartlehners Sicht eine wertvolle Chance, die vertan wurde: Der Kontext sei wichtig, erläutert er. Studienergebnisse aus anderen Ländern - etwa aus Großbritannien, Dänemark, den Niederlanden oder den USA - sind nicht einfach so auf den österreichischen Alltag übertragbar. "Ohne das wirkliche Leben kann man eine Forschungsfrage nicht wissenschaftlich beantworten. Und dieses wirkliche Leben ist immer auch länderspezifisch." Anders als in der klinischen Medizin fragt die Epidemiologie eben nach dem konkreten Verhalten, das zur Entstehung, Ausbreitung und Eindämmung einer Erkrankung beiträgt.
In den Niederlanden gibt es, ebenfalls seit diesem Jahr, ein ähnliches Programm wie in Großbritannien: Es heißt "Field Lab Events", aber anders als im Vereinigten Königreich sind diese Events noch umfangreichere Versuchsanordnungen, bei denen etwa die Teilnehmer eines Konzerts mit ihrem Einverständnis und Wissen mit Sensoren ausgestattet werden, um zu untersuchen, wie sie sich verhalten, wenn bei einer Veranstaltung keine konkreten Regeln vorgegeben werden. In anderen Settings wird untersucht, welche Abstandsregeln sinnvoll sind und wie gut mögliche Infektionen durch Tests nachvollzogen werden können. An allen "Pilot-Events" können nur Personen teilnehmen, die negativ auf das Coronavirus getestet wurden. Die Ergebnisse der Studien, an denen mehrere Universitäten beteiligt sind, leiten die niederländischen Öffnungsschritte an.
Sowohl die britischen als auch die niederländischen Veranstaltungen wurden ganz gezielt ausgewählt, um ein möglichst großes Spektrum abzudecken: Indoor- und Outdoor-Veranstaltungen, Aufführungen mit sitzendem, tanzendem oder singendem Publikum, mit einigen hundert oder auch tausenden Teilnehmern.
Bei einem Konzert in Sefton Park in Liverpool am vergangenen Sonntag tanzten, sangen und schrien 5.000 Menschen bei einem Rockkonzert in einem Festivalzelt. Es gab keine Masken, keinen Abstand und auch kein Alkoholverbot. Ob sich das Virus in dem Setting mit negativ getesteten Menschen verbreiten konnte, wird sich erst noch herausstellen. Derartige Anordnungen sind auch in der Epidemiologie nicht alltäglich - schon gar nicht, wenn die Krankheit, um die es geht, eine Infektionskrankheit ist. "Es ist ein gewisses Risiko", sagt Gartlehner. Auch Andreas Voss von der Radbout Universität in Nijmegen gab vor einem der ersten "Field Lab Events" im März in der Nähe von Amsterdam gegenüber einem Radiosender zu, "nervös" zu sein - obwohl alle Teilnehmenden negativ getestet waren.
Gartlehner hofft, dass die für Österreich angedachte Zusatzausbildung im Bereich Public Health für Mediziner tatsächlich umgesetzt wird. Anders als im angelsächsischen Raum und in Skandinavien fehle es in Österreich auch an der entsprechenden Forschungsförderung für die Epidemiologie und an Ausbildungen. "Ich hoffe, dass es gelingt, auch hierzulande über die klinische Medizin hinauszugehen. Aber davon sind wir in Österreich noch weit entfernt."