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Raus mit aller Macht

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik
Im Parlament von Holyrood hat Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon ihren Antrag auf ein zweites Unabhängigkeits-Referendum eingebracht.

Die Regierungschefin will sich im schottischen Parlament das Mandat für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum holen.


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Edinburgh. Ein eisiger Märzwind fegt durch die Straßen von Edinburgh. Sturm, Schauer, sogar Schneegestöber sind angesagt. Im kleinen Co-op-Geschäft auf der Frederick Street legen sie den jähen Kälteeinbruch der britischen Premierministerin Theresa May zu Lasten. "Wen wundert’s?", spottet einer der jungen Leute, die hinter der Kasse stehen. "Jetzt, wo es raus geht aus der EU, spielt selbst das Wetter verrückt."

Die Zeitungen auf dem Ständer gegenüber der Kasse erläutern, was mit dem Verweis auf die turbulente Großwetterlage an diesem Morgen gemeint ist. "Nächsten Mittwoch wird die britische EU-Mitgliedschaft aufgekündigt", melden alle aufgeregt. Der zum kompromisslosen Brexit trommelnde Londoner "Daily Telegraph" treibt zu zusätzlicher Eile: "Wir müssen rasch raus aus der EU - sie fällt schneller auseinander als bisher gedacht." Dagegen gehen die hiesigen, schottischen Blätter, und mit ihnen auch die Co-op-Verkäufer im Frederick-Street-Laden, davon aus, dass nun etwas ganz anderes auseinanderfallen könnte - nämlich das Vereinigte Königreich.

Den ersten Schritt zu einem solchen "alternativen" Austritt unternimmt jedenfalls an diesem Tag die schottische Regierung. Im Parlament von Holyrood, drunten am wolkenverhangenen Ende der Royal Mile Edinburghs, hat Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon, die auch Vorsitzende der Schottischen Nationalpartei (SNP) ist, ihren Antrag auf ein zweites Unabhängigkeits-Referendum eingebracht.

Das erste Referendum, im September 2014, war ja gescheitert. Aber im Zeichen der radikalen Abkoppelung Großbritanniens von Europa, die Theresa May offenbar vorschwebt, hält Sturgeon eine neue Volksabstimmung nun für unerlässlich. Schottland, das beim britischen EU-Referendum im vorigen Sommer mit 62 zu 38 Prozent für einen Verbleib in der Union stimmte, müsse die Wahl haben zwischen dem verhängnisvollen Marsch ins europäische Abseits oder "einem anderen, eigenen, besseren Weg in die Zukunft", hat sie erklärt.

Nach zweitägiger Debatte soll Schottlands Parlament am heutigen Mittwoch einen entsprechenden Beschluss fassen. Die schottischen Grünen sind, als Alliierte der SNP in Sachen Unabhängigkeit, mit dabei. Für die schottische Labour Party und Schottlands Konservative ist diese Initiative Sturgeons dagegen purer Opportunismus. Sie stemmen sich gegen einen erneuten Versuch der Auflösung des Vereinigten Königreichs.

Warten auf den Absturz

Die schottische Tory-Chefin Ruth Davidson wirft Sturgeon vor, den Brexit nur als "neueste Ausrede" für ihr Verlangen nach einem weiteren Unabhängigkeits-Referendum zu benutzen. Und aus Sicht von Kezia Dugdale, der Labour-Vorsitzende in Edinburgh, stehen die schottischen Nationalisten seit jeher "für Spaltung, Kummer und Gram" im Lande. Die Mehrheit der Schotten wolle gar kein Referendum mehr.

Das stimmt auch, umfragemäßig gesehen. Nur jeder dritte Wähler hält, so kurz nach dem ersten, ein zweites Unabhängigkeit-Referendum für erforderlich. Andererseits zeigten vor wenigen Jahren auch nur wenige Briten Interesse an einem EU-Referendum. Solche Umfragen haben die Brexiteers von der Tory-Rechten nie gestört. Und Sturgeon ist davon überzeugt, dass sich schnell genug abzeichnen wird, wohin ein harter Brexit ihr Land führt. Ein sofortiges Referendum fordert sie dabei gar nicht. Sie will gern 18 Monate oder sogar zwei Jahre warten, bis klar ist, unter welchen Umständen Großbritannien aus der EU ausscheidet. Schließlich hat die Union, die am 29. April einen ersten Sondergipfel zu den Brexit-Verhandlungen abhält, angekündigt, jede Form britischer Rosinenpickerei unterbinden zu wollen.

Schwächelnde Wirtschaft

Ganz ausgeschlossen hat Theresa May zwar nicht, dass es irgendwann noch einmal ein schottisches Unabhängigkeits-Referendum geben könnte. Jetzt jedoch sei "nicht die Zeit", an so etwas zu denken, hat sie erklärt. Ihr Schottland-Minister David Mundell weigert sich sogar rundheraus, auch nur "in Diskussionen oder Verhandlungen zu diesem Thema einzusteigen".

Eine solche Haltung betrachten schottische Beobachter als eine gefährliche Positionierung Londons. "Nichts stärkt den Unabhängigkeitswillen der Schotten mehr, als wenn man ihnen sagt, dass sie keine Unabhängigkeit haben können", meint Ian Macwhirter von der schottischen Zeitung "The Herald". Während seine Landsleute momentan "vielleicht noch nicht in Referendums-Stimmung" seien, behielten sie die Lage äußerst kritisch im Auge: "Und je härter der Brexit wird, desto mehr verhärten sich die Meinungen hier." In der Tat haben weder "The Herald" noch "The Scotsman", die beiden wichtigsten Pressestimmen Schottlands, Zweifel daran, dass es zu einem Referendum kommen muss, wenn das schottische Parlament mit Mehrheitsbeschluss eines verlangt. Beide Blätter, die 2014 noch gegen schottische Unabhängigkeit eintraten, haben Mays "Referendums-Blockade" scharf verurteilt. Sie haben die Art und Weise, in der die Premierministerin "die schottische Demokratie" abtat und Schottland bislang ignorierte, "unhaltbar", "rücksichtslos" und "verblendet" genannt. In einer Flut von Leserbriefen binnen weniger Tage sind viele ähnliche Stimmen laut geworden. "Wie Diktatoren" benähmen sich May und ihre Minister , klagen empört manche der Schreiber.

Andere halten es für "reine Fantasie", dass sich Schottland als von England getrennter und zugleich aus der EU katapultierter Staat sollte behaupten können. Mit den gefallenen Ölpreisen und einem Riesendefizit im schottischen Haushalt stehe man wesentlich schlechter da als 2014, beim letzten Referendum. Jetzt mit einem neuen Unabhängigkeits-Referendum zu kommen, sei "totaler Wahnsinn". Sturgeon wolle sich doch nur, via Brexit, "in die Geschichtsbücher eintragen".

Sturgeon als Zugpferd

Rückenwind könnte den Separatisten vor allem bescheren, dass sich die Umstände gegenüber 2014 bereits wesentlich geändert haben. Damals waren die Befürworter staatlicher Souveränität noch diejenigen gewesen, die ihr Land in eine ungewisse Zukunft führen wollten und mit ihrem Abgangs-Plan auch die schottische EU-Mitgliedschaft gefährdeten. Diesmal, nach dem Brexit-Beschluss Britanniens, sieht die Sache genau umgekehrt aus. Auch in der EU schaue man sehr viel freundlicher nach Schottland als seinerzeit, sagt die prominente Unabhängigkeits-Verfechterin Lesley Riddoch.

Auch andere Unterschiede gibt es zu 2014. In Nicola Sturgeon hat die SNP eine populärere Führungsfigur als damals: Alex Salmond war vielen im Lande zu scharfzüngig, zu aggressiv. Dass Sturgeon nun "Respekt" für Andersdenkende verspricht und auf einer Basis "ehrlicher Information" auch über potenzielle Probleme für ein unabhängiges Schottland sprechen möchte, kommt bei ihren Mitbürgern besser an.

Vor allem aber gibt es mittlerweile kaum noch Hoffnung für ein Wiedererstarken der Labour Party, drunten in Westminster. 2014 hofften viele Schotten noch auf einen Regierungswechsel in London. Mittlerweile ist mit Labour nicht mehr viel los. Die Partei ist gelähmt und zutiefst in sich zerstritten.

Die Aussicht aber, auf ein volles Jahrzehnt hinaus "selbstherrlichen" Tory-Regierungen wie der Theresa Mays "ausgeliefert" zu sein, könnte den überwiegend linksliberal orientierten Separatisten viel Unterstützung zuführen - zumal, wenn Mays Schatzkanzler Philip Hammond allen Ernstes erwägt, Brexit-Britannien zu einem Billiglohnland und einer Steueroase vor den Küsten Europas zu machen.

Mit Promis und Millionen

Wer sich in Edinburgh diese Woche umhört, stößt aber natürlich auf Zweifel am Erfolg eines zweiten Unabhängigkeits-Referendums. Am Ende werde der Schritt vielen Schotten doch zu gewagt sein, wirft ein älteres Paar aus Aberdeen bei einem Plausch im Foyer des schottischen Parlaments skeptisch ein: "Wenn ein solches Referendum erst in drei oder vier Jahren bewilligt werde, hätten sich die meisten vielleicht an ein neues Leben außerhalb der EU schon gewöhnt. Oder der Brexit könnte sich, anders als Sturgeon glaubt, als Erfolg erweisen. Was dann?" Kritiker der SNP verweisen auch darauf, dass sich der Anteil der Befürworter schottischer Unabhängigkeit in den Umfragen seit dem letzten Referendum und noch im Zuge des britischen Brexit-Beschlusses kaum verändert hat: Damals stimmten 45 Prozent für Trennung von England. Zwei Jahre vor dem sogenannten "Indyref1" sprach sich aber auch nur etwa jeder Vierte für Unabhängigkeit aus. Im Laufe der Kampagne schwollen diese 25 Prozent zu 45 Prozent an. Und heute, unter ganz anderen Umständen, startet die Unabhängigkeits-Bewegung auf einem ganz anderen Niveau - und reicher an Erfahrungen. Im SNP-Kalkül stehen die Chancen für einen Sieg diesmal gar nicht so schlecht.

In Gang gekommen sind die Vorbereitungen für den zweiten Anlauf zur Unabhängigkeit jedenfalls schon. SNP-Generalsekretär Peter Murrell und Elaine Smith, die Präsidentin des Dachverbands für Schottische Unabhängigkeit, haben in den letzten Tagen damit begonnen, die "Truppen" von 2014 neu zu mobilisieren und die damaligen Geldgeber für erneute Spenden zu gewinnen. Auch eine landesweit bekannte schottische Familie, die aus einem sensationellen 160-Millionen-Pfund-Lotteriegewinn bereits mehrere Milliönchen für die Sache der Unabhängigkeit abgezweigt hat, soll wieder bereit sein, ein paar Geldbündel aus dem Tresor zu holen.

Die Gegenseite sucht derweil ihrerseits nach einer Patronin, die sich gegen Nicola Sturgeon aufbieten ließe. Ein Vorschlag, der jetzt in Edinburgh die Runde macht, ist die Frage, ob sich Harry-Potter-Autorin JK Rowling für eine solche Rolle gewinnen ließe. Rowling ist schließlich auch nicht die Ärmste. Außerdem ist sie weithin beliebt in Schottland. Ein bisschen Potter-Magie könnte das Lager der "Unionisten" wahrscheinlich brauchen in den Stürmen der nächsten Jahre.