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Real existierende Apartheid

Von Eleonore Chowdhury-Haberl

Reflexionen

Obwohl die Rechte der "Unberührbaren" seit 1947 in der indischen Verfassung festgeschrieben sind, leiden die Angehörigen der untersten Hindu-Kaste nach wie vor unter Diskriminierung.


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Die Angehörigen der untersten Hindu-Kaste, der Kaste der Unberührbaren, die früher Sudras genannt wurden, heißen seit 1947 Dalits. Dorfbewohner, die einer höheren Kaste angehören, haben sich kürzlich auf eine Gruppe von Dalits gestürzt und sie niedergemetzelt, weil sie eine "heilige" Kuh getötet hatten.

Solche Vorfälle gibt es in den Dörfern Indiens immer wieder, obwohl in der Verfassung von l947 die Gleichheit aller vier Kasten vor dem Gesetz verankert wurde. Die Realität in der größten Demokratie der Welt sieht jedoch anders aus. Selbst das Apartheid-System Südafrikas war nicht so rigide wie das indische Kastensystem es heute noch ist. Ja, es verfolgt die Dalits sogar noch, wenn sie im Ausland leben. In einem Londoner Pub in Southall, einem von vielen Indern bewohnten Stadtteil, hat etwa ein Fanatiker ein Graffito an die Wand gemalt: "Dalits und Hunde sind hier nicht willkommen".

Zahlreiche Übergriffe

Besonders in den abgelegenen Gebieten von Bihar und Uttar Pradesh in Nordostindien, wo Gewalt und Gesetzlosigkeit herrschen, kommt es immer wieder zu Übergriffen auf Dalits. Oft geht es dabei um die Benutzung der Dorfbrunnen: Dalits dürfen nur eigens für sie vorgesehene Brunnen benützen. Sollten diese kein Wasser mehr haben, ist es ihnen nicht erlaubt, Wasser vom Brunnen der Kastenhindus zu holen. Auch der Zutritt in die Tempel der Kastenhindus ist ihnen verboten. Und immer wieder werden Dalit-Mädchen und -Frauen belästigt, ohne dass dies von der lokalen Polizei geahndet wird.

Im Hinduismus gibt es vier Kasten: Ganz oben stehen die Brahmanen, gefolgt von den Kshatrias (die Kriegerkaste), danach rangieren die Vaishnavas (traditionell die Händlerkaste) und ganz unten steht die Kaste der Sudras, bzw. Dalits, also die Kaste der Unberührbaren, der rund 22 Prozent der indischen Bevölkerung angehören.

Die Dalits sind die Tagelöhner Indiens, die landlose Landbevölkerung, die sich mit schwerer körperlicher Arbeit ihr Leben verdient. Durch Jahrtausende musste diese Kaste ungeheure Demütigungen ertragen und war den oberen Kasten praktisch rechtlos ausgeliefert.

Ein hochrangiger indischer Wissenschafter, ein Brahmane aus Kerala, erzählte mir vor Jahren, wie er das Kastensystem in seiner Kindheit in den 1940er Jahren erlebte: Wann immer sich ein Brahmane in seinem Dorf auf die Straße begab, führte er eine kleine Glocke mit. Diese läutete er regelmäßig, damit alle auf der Straße hören konnten, dass ein Brahmane des Weges kam. Die Dalits, die sich auf der Dorfstraße befanden, mussten dem Brahmanen aus dem Wege gehen; nicht einmal der Schatten eines Unberührbaren durfte den edlen Brahmanen treffen. Deshalb die warnende Glocke.

Diese Zeiten sind immerhin lange vorbei. Einer, der für die Gleichheit der Sudras gekämpft hat und erreichte, dass deren Rechte in der indischen Verfassung von 1947, als Indien die Unabhängigkeit vom Britischen Empire erlangte, niedergeschrieben wurden, war Dr. Babasaheb Ambedkar (1891-1956), der "Vater" der indischen Verfassung. Auch er war ein Dalit, konvertierte zum Buddhismus, und befreite sich mit Intelligenz und großer Willenskraft aus den Fesseln seiner Kaste. Er studierte in London und in den USA, wurde Rechtsanwalt, und schließlich der Verfechter der Rechte der Unberührbaren.

Dass er selbst ein Dalit war, betrachtete er als seine Stärke, denn daraus schöpfte er den Mut und die Kraft, die Ungerechtigkeiten zu bekämpfen. Dr. Ambedkar ist noch immer das Vorbild der Dalits. Sein Denkmal steht an einem prominenten Platz nahe dem Gerichtshof von Bombay. Als Besucher von ist man überrascht, dass die Statue kein indisches Gewand trägt, sondern einen westlichen Anzug.

Gandhis Beitrag

Viele Dalits machten es Ambedkar nach und konvertierten zum Buddhismus, um so ihrer Kaste zu entkommen. Die christlichen Missionare wiederum sahen in den Dalits eine Hauptzielgruppe für Konvertierungen und kümmerten sich in den Missionsschulen um eine Ausbildung, die ihnen sonst versagt geblieben wäre.

Auch Mahatma Gandhi hat für die Gleichheit aller indischen Kasten gekämpft. Und er hat persönlich vorgelebt, wie man die Kastenschranken überspringt, indem er die niedrigsten Arbeiten, wie etwa die Reinigung von Latrinen, eine Arbeit, die seit jeher von den Dalits verrichtet wurde (siehe dazu auch Artikel auf Seite 5, Anm.), auf sich nahm. Auch seine Ehefrau forderte er auf, sich ihm anzuschließen, was sie sehr widerwillig tat.

Die Lage der Dalits hat sich in den letzten 60 Jahren zweifellos verbessert. Besonders in Südindien sind die Dörfer wohlhabender geworden - und das Brunnenproblem hat sich von selbst gelöst. Denn es gibt nun fast überall öffentliche Wasserleitungen, die für alle zugänglich sind, und auch in den kleinen Dorfstraßenkneipen vermischen sich die Kasten.

In den Städten kommt das Kastensystem nicht so zum Tragen wie auf dem Lande. Obwohl die Menschen sich der Zugehörigkeit zu ihrer Kaste sehr wohl bewusst sind, spielt das im täglichen Leben und im Umgang miteinander keine besondere Rolle mehr. Solange die Dalits in untergeordneten Stellungen verharren, sind sie gemäß ihres Ranges integriert und die Kastenhindus fühlen sich nicht bedroht. Sobald ein Dalit jedoch eine höhere Position anstrebt, als ihm der Kaste nach zusteht, ist der Status Quo in Frage gestellt. Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy nannte dies die "Angst der Macht vor der Machtlosigkeit".

Unüberwindbar werden die Kastenschranken allerdings, wenn es um Eheschließungen geht. Diese Schranken gelten nicht nur für Dalits, sondern auch für die höheren Kasten, die Ehen meist nur innerhalb ihrer eigenen Kaste zulassen.

Es gibt eine dünne Schicht von Dalits, denen es gelungen ist, dem (Teufels-)Kreis der Armut und Ausnützung durch Bildung zu entkommen. Durch das Programm der indischen Regierung, welches auf jeder Universität Quoten für Dalits reserviert, war es im Laufe der letzten Jahrzehnte auch für diese möglich, zu studieren und eine gute Ausbildung zu erhalten, sodass es inzwischen Dalits als Kardiologen, Bankdirektoren oder Dekane von Universitäten gibt. Diskriminierung existiert indes sehr wohl, wie einige von ihnen kürzlich in einem Interview erklärten, als man sie zur gegenwärtigen Einstellung der Kastenhindus zu den Dalits, und vor allem zu den erfolgreichen Dalits befragte, jedoch ist diese Diskriminierung sehr subtil.

Wie einer von ihnen, ein bekannter Kardiologe, erzählt: "Heute trage ich eine Krawatte, und wenn ich in mein Dorf zurückkehre, werde ich wie ein Gott verehrt. Die Kastenhindus laden mich in ihre Häuser zum Abendessen ein, aber dennoch würden sie mir nicht erlauben, ihren puja-Raum (der Raum, in dem die Statuen der Hausgötter stehen, und in dem sie ihre Gebete verrichten, Anm.) zu betreten."

Hunderte größere und kleinere Diskriminierungen sind tägliche Erfahrungen der Dalits. Ein oberster Richter in Allahabad etwa - ein Brahmane - ließ seine Kanzlei mit Ganges-Wasser reinigen, weil der Raum vor ihm von einer Rechtsanwältin benützt worden war, die einer niedrigeren Kaste angehörte. Ein Dalit, ein hoher Bankbeamter in Bombay, musste sich von einer Hausangestellten sagen lassen, dass sie nicht mehr für ihn arbeiten könne, weil sie erfahren hatte, dass er ein Dalit sei!

Kastenhierarchie

Vor kurzem wurde von einem Fall berichtet, der sich in einem Dorf in Rajasthan abgespielt hat: Eine junge Frau aus der Kaste der Dalits, die sich und ihre Kinder durch Feldarbeit und Viehhüten kärglichst ernährte, bewarb sich für den freigewordenen Posten einer Köchin in der Dorfvolksschule. Sie wurde angestellt, musste jedoch schon nach einigen Tagen ihre Arbeit aufgeben, da die Volksschüler, die aus verschiedenen höheren Kasten kamen, sich weigerten, Mahlzeiten zu sich zu nehmen, die von der Hand einer Dalit zubereitet worden waren.

Erst im April 2012 kam es wieder zu Beschädigungen von Ambedkar-Statuen seitens fanatischer Hindus, welche die Gleichheit der Kasten, wie sie von Ambedkar gefordert und in der indischen Verfassung von 1947 festgelegt worden war, nicht anerkennen wollen und weiter auf den Vorrechten der höheren Kasten bestehen.

Diese Vorkommnisse zeigen immer wieder, dass die Kastenhierarchie in Indien nicht einfach durch Gesetze allein aufgehoben werden kann. Im System der indischen Apartheid ist es der Name, der den Menschen kennzeichnet, oder die Art, wie er seine Muttersprache spricht. In der indischen Gesellschaft ist jeder ununterbrochen auf der Suche nach einem versteckten Zeichen einer Kaste und dem sozialen Status seines Gegenübers. Sogar bei konvertierten Hindus ist das Kastendenken noch präsent.

Es gibt indische Katholiken, die gerne erwähnen, dass sie Brahmanen-Katholiken sind (also ursprünglich Hindus der Brahmanenkaste, die zum Christentum konvertiert sind), im Gegensatz zu Berufsgruppen wie Handwerkern oder Arbeitern, die - falls sie zum Christentum konvertiert sind - aus einer der untersten Kasten stammen.

Bildungsnivellierung?

Die Kastenhindus beklagen ihrerseits, dass die Dalits allein auf Grund ihrer Kaste und des von der Regierung festgelegten Quotensystems für das Universitätsstudium ohne entsprechende höhere Qualifikation, wie von anderen Studenten verlangt, zum Studium zugelassen werden. Dies wird als Ungerechtigkeit zugunsten der Dalits angesehen - und zugleich wird argumentiert, dass als Folgeerscheinung dieses Systems das Bildungsniveau gesenkt wird, und nicht mehr die Besten Zugang zu den Universitäten bekommen.

Der bekannte indische Intellektuelle und Film-Regisseur Shyam Benegal sieht das anders:

"Die Bedenken der Kastenhindus sind unbegründet. Man sollte daran denken, dass 22 Prozent der indischen Bevölkerung Jahrtausende lang unbeschreibliche Schmach erleiden und ein rechtloses Leben fristen mussten, nur weil sie das Pech hatten, als Dalit geboren zu werden.

Es ist an der Zeit, dass die indische Gesellschaft dieses Unrecht gutmacht. So wie wir alle, haben auch die Dalits das Recht auf ein besseres Leben. Das Kastensystem ist ein integraler Teil der Hindu-Kultur. Es kann nicht abgeschafft werden, wie die Apartheid, aber alle Inder müssen dafür einstehen, dass die Menschenwürde der Dalits respektiert wird und auch sie einen Platz an der Sonne finden."

Eleonore Chowdhury-Haberl ist in Klagenfurt geboren, lebte zwanzig Jahre lang in Bombay und ist nun als Übersetzerin und freie Journalistin in Wien und Bombay tätig.