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Die Börse fällt, die Preise steigen - doch das Parlament berät über Samenbanken. Mitten in der schwersten Wirtschaftskrise der vergangenen Jahrzehnte fand die türkische Volksvertretung diese Woche nur wenig Zeit, um über rasche Maßnahmen zur Überwindung des Notstands zu debattieren.
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Nicht nur die türkische Presse regt sich über den immer krasser hervortretenden Realitätsverlust der Politiker in der Hauptstadt auf. Regierung und Parteien bekommen die Wut der Bevölkerung seit Tagen auch in immer neuen Protestdemonstrationen zu spüren. Politikverdrossenheit ist gar kein Ausdruck für das, was sich derzeit in der Türkei tut, findet der Politikwissenschaftler Dogu Ergil: "Die Legitimität des politischen Systems wird in Frage gestellt."
Bei Kundgebungen im ganzen Land fordern Demonstranten den Rücktritt der Regierung; mitunter wird auch der Ruf nach einer neuen Militärregierung laut. Die regierende Dreierkoalition aus Linksnationalisten, Konservativen und Rechtsgerichteten unter Ministerpräsident Bülent Ecevit trägt nach Ansicht vieler Türken die Schuld an der wirtschaftlichen Misere.
Doch nicht nur die Regierungsfraktionen, sondern alle Parteien sind bei der Bevölkerung diskreditiert. Oppositionsführer Recai Kutan, der am Freitag mit einem Besuch auf dem Großen Basar von Istanbul politischen Gewinn aus dem Unmut der Händler schlagen wollte, wurde von den wütenden Basaris vom Markt gejagt.
Gäbe es bald Neuwahlen, dann würde jüngsten Umfragen zufolge keine einzige Partei den Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde ins Parlament schaffen - ein wohl einmalig deutliches Misstrauensvotum gegen die politische Klasse. "Das von autoritärer Führung und Patronage gekennzeichnete politische System hat seine Grenzen erreicht", sagt Ergil. "Es genügt nicht mehr den Bedürfnissen der Bevölkerung." Diese Erkenntnis setzt sich auch bei einigen Politikern schon durch. "Wir sind keine Volksvertreter, sondern die Vertreter unserer Parteiführer", bekannte die Koalitionsabgeordnete Sema Piskinsüt jetzt mit Verweis auf das Parteiengesetz, das die Kandidatenaufstellung für Wahlen dem Gutdünken der Parteichefs überlässt.
"Wir sind in Not, wo bleibt die Regierung?", fragen die Demonstranten auf ihren Protestkundgebungen. 446 Tage nach der erzwungenen Freigabe des Lira-Kurses, der die Landeswährung bisher mehr als 40 Prozent ihres Wertes kostete, hat die Regierung noch immer kein Notprogramm zur Überwindung der Krise vorlegen können. Eine Selbstmordwelle ruinierter Mittelstandsunternehmer rollt durchs Land, die Einkommen und Ersparnisse der Türken schmelzen fast täglich weiter zusammen, die Arbeitslosigkeit steigt, lebenswichtige Medikamente können wegen des Lira-Kurses nicht mehr importiert werden. Doch auf die Frage, was er zu den Massenprotesten zu sagen habe, entgegnete Ecevit lediglich, die Bevölkerung sei "ungeduldig". Und mit den Rücktrittsforderungen konfrontiert, meint der Ministerpräsident nur trocken: "Und wer soll dann regieren?"