Heftige Kämpfe in Libyens Hauptstadt. | Bewohner fliehen aus Tripolis.
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Tripolis. Mitten in verzweifelter Lage gelang dem Gaddafi-Regime noch einmal ein Propaganda-Coup: Nachdem es am Montag geheißen hatte, Saif al-Islam, Sohn von Muammar Gaddafi, sei gefangen worden, zeigte sich der vom Internationalen Strafgerichtshof Gesuchte am Abend westlichen Reportern. Vor dem Hotel Rixos, in dem mehrere Auslandskorrespondenten wohnen, verkündete er lächelnd, dass die Lage in Tripolis unter Kontrolle sei.
Am nächsten Tag gibt es rund um das Hotel, wo Gaddafi-treue Soldaten positioniert sind, heftige Schusswechsel. Die Residenz Gaddafis, die weitläufige Anlage Bab al-Azizyah, ist am Vormittag heftig umkämpft. Am Nachmittag gelingt es den Rebellen, ein Tor zu dem Kasernen-Komplex aufzubrechen, die Oppositionellen dringen in das symbolisch wichtige Gebäude ein. Sie besetzen einen Großteil des Areals und hissen ihre Flagge über dem ehemaligen Herzstück der Macht Gaddafis. Die Rebellen feiern ihren Sieg, plündern die Gebäude und fördern etwa ein goldenes Gewehr zutage. Al Jazeera- und CNN-Reporter sind in Bab al-Azizyah und bestätigen die Angaben der Rebellen. Ursprünglich war vermutet worden, dass sich Gaddafi in der Anlage aufhalten könnte. Gefunden wurde er vorerst nicht.
In London bestätigte unterdessen Vizepremier Nick Clegg, dass der Auftritt von Saif al-Islam "kein Zeichen für ein größeres Comeback des Gaddafi-Regimes" sei. Das stimmt mit den Aussagen von anderen westlichen Vertretern überein. So meinten etwa Nato-Sprecher in Neapel, wo die Luftangriffe auf Libyen koordiniert werden, dass Gaddafis Ende nahe sei. Die Kampfkraft seiner Truppen sei durch Deserteure und Überläufer "ernsthaft geschwächt". In Tripolis sei die Lage allerdings "sehr komplex" und nach wie vor gefährlich, erläutert Nato-Sprecher Roland Lavoie.
Dieser Umstand irritiert die Anhänger der Rebellen, die schon am Sonntagabend Gaddafis Niederlage feierten, ebenso wie der Auftritt von Saif, von dem man nicht weiß, ob er nie gefangen gewesen war oder ob er seinen Wächtern entkommen ist. Die Rebellen-Regierung in Benghazi rechtfertigte ihre verfrühte Jubelmeldung damit, dass die Nachricht von Saifs Festnahme von Agenten Gaddafis verbreitet worden sei.
Wo ist Gaddafi?
Und über allem schwebt die Frage, wo der bisherige Machthaber selbst steckt.
Lavoie gab zu, dass die Nato keine Ahnung über den Verbleib Muammar Gaddafis habe, tat diese Frage aber als "nicht wirklich wichtig" ab. Eine Festnahme des Gesuchten sei nur ein "symbolischer Akt", seine Regime ohnehin zum Untergang verurteilt.
Diese Symbolik ist aber nicht zu unterschätzen, wie aus Äußerungen von Mustafa Abdel Jalil, dem Vorsitzenden des Nationalen Übergangsrates, hervorgeht: "Der wahre Moment des Sieges ist, wenn Gaddafi gefasst wird", meint er.
In der Öffentlichkeit hat sich der selbsternannte Revolutionsführer zuletzt im Mai gezeigt, als er den südafrikanischen Präsidenten Jacob Zuma zu einer Vermittlungsmission empfing. Im Juni ließ er sich vom Staatsfernsehen bei einer Schachpartie aufnehmen. In den letzten Wochen trat er aber nur noch mit Audiobotschaften in Erscheinung. Dabei versuchte er stets den Eindruck zu vermitteln, dass er sich noch in Tripolis aufhalte.
Flucht nach Sirte?
Es gibt aber auch Spekulationen, dass sich Gaddafi in der Stadt Sirte aufhalten soll, in der er 1942 geboren wurde. Die Küstenstadt ist Heimat seines Stammes, den Gaddafa, und befindet sich anders als der Großteil des Landes weiterhin in der Hand seiner Anhänger. Am Dienstag wurden auch von dort heftige Kämpfe gemeldet, die Rebellen gaben an, einen Militärkonvoi angegriffen und dutzende Gaddafi-Soldaten getötet zu haben.
Aus anderen Teilen kommen ebenso wie aus Tripolis Nachrichten, die beweisen, dass sich die regulären Truppen des Regimes noch keineswegs geschlagen geben. So wurde von Zusammenstößen nahe dem strategisch wichtigen Ölhafen Brega berichtet. Und am Montag sollen Gaddafis Truppen laut Nato neuerlich drei Scud-Raketen in Richtung der Stadt Misrata abgefeuert haben, die in der Hand von Rebellen ist. Von Treffern oder Schäden war aber nichts bekannt.
Bisher 2000 Tote
In Tripolis selbst sollen bei den jüngsten Kämpfen rund 2000 Menschen umgekommen sein, meldete der Übergangsrat. Teile der Stadt sind nach wie vor in den Händen der Gaddafi-Truppen. Zahlreiche Menschen versuchen, den intensiver werdenden Schusswechseln durch Flucht aus der Hauptstadt zu entkommen. Laut der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen sind "einigen Krankenhäusern lebensrettende Medikamente und medizinisches Material ausgegangen".
Auch wenn die Lage in Libyen "absolut unüberschaubar" sei, überlegt Österreichs Außenminister Michael Spindelegger die Wiederansiedlung österreichischer Unternehmen, um beim Aufbau demokratischer und wirtschaftlicher Strukturen zu helfen, wie er nach dem Ministerrat mitteilte. Auch Bundeskanzler Werner Faymann sprach sich für wirtschaftliche Unterstützung des Übergangsrates aus. Verteidigungsminister Norbert Darabos erteilte einem möglichen Bundesheereinsatz in Libyen eine Absage.