)
Schon beim bloßen Gedanken an Mathematik erstarren viele wie das Kaninchen vor der Schlange - nicht zuletzt, weil ihnen der Schulunterricht das Fach verleidet hat. Drei Mathematiker brechen eine Lanze für die Schönheit der Mathematik.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Angenommen, Sie haben 400 Euro auf ein Sparbuch gelegt, und nach einer gewissen Laufzeit mit gewisser Verzinsung sind daraus 500 Euro geworden. Was hätten Sie bei selber Laufzeit und Verzinsung herausbekommen, wenn Sie 800 Euro angelegt hätten?
Wer jetzt aus dem Bauch heraus 1000 Euro sagt - liegt goldrichtig. Denn dass die doppelte Ausgangsmenge bei denselben Faktoren zum doppelten Ertrag führt, wird wohl selbst einem Volksschulkind einleuchten. Ja, so einfach und gar nicht kompliziert ist die Lösung. "Trotzdem hat eine sonst sehr kompetente Finanzberaterin, die ich einmal vor diese Aufgabe gestellt sah, lang und breit ihre Tabellen konsultiert, weil sie der offensichtlichen und korrekten Lösung nicht getraut hat", erzählt Reinhard Winkler vom Institut für Diskrete Mathematik* und Geometrie an der TU Wien. (*In der Mathematik ist der Terminus "diskret" am besten über seinen Gegensatz "kontinuierlich" zu verstehen. Eine kontinuierliche Größe kann zwischen zwei verschiedenen Werten alle unendlich vielen Zwischenwerte annehmen, eine diskrete Größe nicht. Ein zentrales Teilgebiet der Diskreten Mathematik ist beispielsweise die Kombinatorik. Sie beschäftigt sich mit der Ermittlung von Anzahlen gewisser Elemente, bei denen zwischen den Werten 0, 1, 2, 3, 4 usw. keine Zwischenstufen möglich sind. Im Gegensatz dazu gehören Bereiche der Mathematik, wo gemessen wird, typischerweise der "kontinuierlichen" Mathematik an. Ein Beispiel aus der Musik: Ein Geiger kann auf seinem Instrument ein kontinuierliches Spektrum von Tönen produzieren, während auf dem Klavier nur eine diskrete Menge von Tönen - für jede Taste einer - möglich sind. Auf dem Klavier gibt es zum Beispiel keine Zwischenstufe zwischen C und Cis, auf der Geige sehr wohl.) Winkler, der auch am "math.space" von Rudolf Taschner im Wiener Museumsquartier mitwirkt, ist seit Jahren auch in der Lehrerausbildung engagiert und hat eine Erklärung parat, warum so viele Menschen die Mathematik fürchten. "In der Schule werden meistens stur Formeln und Rechnungen gepaukt. Das, was dahinter steht, kommt dabei zu kurz." Und so lernt der Schüler zwar im Mathematikunterricht, ein paar Formeln in ganz speziellen Zusammenhängen anzuwenden, das selbständige Denken aber wird dadurch nicht gefördert. "Dabei hat wahre Mathematik nichts mit seitenlangen Berechnungen von Integralen zu tun. Ein Mathematiker versucht, für ein ihm gestelltes Problem eine möglichst elegante Lösung zu finden", sagt der Webentwickler Jan Hilmar, der im Rahmen seiner universitären Mathematiker-Ausbildung auch dreieinhalb Jahre in den USA am St. Mary’s College of Maryland studiert und danach im schottischen Edinburgh seinen PhD gemacht hat. "Wenn ich Nachhilfe gebe, fällt mir immer wieder auf, dass die Schüler nie nach dem Warum fragen, sondern nur versuchen, auswendig gelernte Formeln auf das konkrete Beispiel anzuwenden", sagt er. "Ich kenne Schüler, die jede Prüfung ohne Probleme bestehen - bis man die Beispiele leicht abändert, dann ist alles aus. Aber das ist keine Mathematik, das ist Auswendiglernen." Ein vertrautes Phänomen, das auch Winkler kennt: "Fertigkeiten, die im Schulunterricht zwar erworben und vielleicht auch virtuos beherrscht wurden, stehen überhaupt nicht mehr zur Verfügung, sobald eine Aufgabenstellung nicht genau jenem Schema entspricht, das im Schulunterricht gedrillt wurde."
Das Fach richtig vermitteln
Die Schüler, meint Winkler, könnten aber nur wenig dafür, und auch die Lehrer könne man nur teilweise dafür verantwortlich machen. "Augenscheinliche didaktische Schwächen gehen sehr oft mit fachlichen Schwächen Hand in Hand. Und da gibt es relativ viele, die eine falsche Berufswahl treffen. Ein Spezifikum des Lehrberufs ist, dass man mit 18 Jahren nicht nur ein Fach wählt, sondern einen Beruf. Das kann problematisch sein", meint Winkler. In den Lehrerberuf würden viele hineinströmen, die einfach nur das machen wollen, was sie schon kennen. Das sei keine gute Selektionsgrundlage. Die Wahl, ob sie Mathematiklehrer werden oder einen anderen Zweig der Mathematik wählen wollen, sollte seiner Meinung nach später getroffen werden können. Schließlich entdecken manche, die nicht Lehramt studieren, sondern einen technischen Beruf ergriffen haben, später ihren Sinn fürs Unterrichten und würden vielleicht noch gute Mathematiklehrer. Hier würde sich Ausbildner Winkler mehr Durchlässigkeit wünschen. "Der Umstieg für Spätberufene in den Lehrerberuf sollte erleichtert werden. Wir brauchen mehr gute Mathematiklehrer." Auf die Frage, welche Fähigkeiten bei Lehrern besonders gefragt sind, meint er: "Im Mathematikunterricht geht es darum, Querverbindungen sowohl innerhalb der Mathematik als auch nach außen klarzumachen. Da sind Fachkompetenz und didaktische Fähigkeiten eins."
Wer Winkler bei seinen Ausführungen zuhört, erlebt, wie Mathematik förmlich lebendig wird. Wie da der Esprit aus seinen Augen funkelt, wenn er etwa zum Thema Differenzial- und Integralrechnung feststellt, dass es doch ein wesentlich interessanterer Ansatz wäre, statt bloß abstrakte Kurven zu diskutieren, sich näher mit Isaac Newton zu befassen, der erstens die Gravitationskraft entdeckt und zweitens die Differential- und Integralrechnung entwickelt hat, um aus der Verbindung dieser neuen Gedanken den Lauf der Planeten zu erklären, den Johannes Kepler zwar beschrieben, aber nicht wirklich verstanden hatte. "Technische Details dürfen dabei durchaus ausgeklammert werden." So wie der Unterricht heute leider zu oft ablaufe, "werden Dinge gelernt, ohne zu wissen, was sie mit der Wirklichkeit oder unserem Denken zu tun haben. Das ist vergeudete Zeit", betont der Mathematiker.
Viele Schüler nehmen aber auch schon von vornherein eine Abwehrhaltung ein, wenn sie mit Mathematik konfrontiert werden. "Das Problem, dass Mathematik als schwierig empfunden wird, pflanzt sich immer fort", meint Theresia Oudin, die an der AHS Ettenreichgasse Mathematik unterrichtet, "weil schon die Eltern sagen: Hab ich auch nicht können oder wollen." Noch ärger sei es nur mit der Physik, ihrem Zweitfach. Im täglichen Unterricht versucht sie deshalb, Schülern, die zumindest einen Willen zur Mitarbeit zeigen, die Chance auf eine zumindest durchschnittliche Beurteilung zu geben. "Sie sollen nicht daran scheitern, wenn sie das Fach nun einmal haben und nicht abwählen können", sagt Oudin, die den Lehrberuf gewählt hat, obwohl sie an ihre eigene Schulzeit bezüglich Mathematikunterricht überwiegend negative Erinnerungen hat.
Zeit und Verständnis
Kein Wunder also, dass selbst AHS-Absolventen mit einem Einser im Maturazeugnis später vor einer simplen Aufgabenstellung - wie der eingangs erwähnten - stehen und dabei erst einmal förmlich in Schockstarre verfallen wie das Kaninchen vor der Schlange. Noch schlimmer wird es natürlich, wenn schon die Aufgabenstellung selbst kompliziert klingt.
Ein Beispiel: Jeder Maturant sollte eigentlich wissen, dass so wie die Fläche eines Quadrates mit dem Quadrat der Seitenlänge wächst (daher auch die Sprechweise), genauso auch die Oberfläche einer Kugel mit dem Quadrat des Radius wächst. Sprich: doppelter Radius - vierfache Oberfläche, dreifacher Radius - neunfache Oberfläche, zehnfacher Radius - hundertfache Oberfläche. In einem Test einer österreichischen Universität zu Studienbeginn (der für die Studenten keine Konsequenzen hatte, sondern lediglich deren mathematische Vorbildung ungefähr aufzeigen sollte) wurde genau danach gefragt, allerdings ein wenig ausgeschmückt und dadurch mathematischer klingend. Im Kern lautete die Frage also: Wie muss ein bestimmter Radius einer Kugel vergrößert werden, damit sich die Oberfläche verhundertfacht? Obwohl als Hinweis auch noch die (aus der Schulmathematik natürlich bekannte) Formel für die Kugeloberfläche angegeben wurde, scheiterten zwei Drittel der Studenten an dieser Frage.
Sie konnten offenbar das verbale Beiwerk nicht vom Kern der Sache trennen - ein auffälliges Manko an Abstraktionsvermögen. "Gerade in der Mathematik ist es aber oft so, dass ein Problem, wenn man es nur von der richtigen Seite betrachtet, oft ganz klar zu lösen ist", sagt Hilmar. "Dies braucht halt Zeit und Verständnis. Das sind leider beides Dinge, bei denen der Schulalltag mit seinen standardisierten Tests und Lehrplänen nicht hilfreich ist. Und viele schlechte Erfahrungen sorgen dafür, dass viele dann von vornherein Mathematik gar nicht nah genug an sich heranlassen, um auch Erfolgserlebnisse zu erzielen." Auch der Webdesigner hat übrigens selbst trotz und nicht wegen des Mathematikunterrichts später Mathematik studiert.
Warum? Genau wegen eben jener Schönheit der Mathematik, von der auch Winkler schwärmt. Denn während die einen schon beim Anblick von Zahlen und Rechenzeichen ein flaues Gefühl im Magen bekommen, blicken die anderen tiefer hinein. Und entdecken dann zum Beispiel, dass "die schönsten Beweise gleichzeitig auch die kürzesten sind", wie Hilmar sagt. "Das Wunderschöne an der Mathematik ist, dass jemand einen hundertseitigen Beweis führen kann - und einige Jahre oder Jahrzehnte später jemand das gleiche Theorem durch eine geschickte Betrachtungsweise in zwei Zeilen beweisen kann."
Veranschaulichung hilft
In jedem Fall tut sich leichter, wer sich eine Aufgabenstellung veranschaulichen kann. So sieht Winkler, wenn es zum Beispiel um Integralrechnung geht, die Fläche unter der Kurve vor sich und nicht die abstrakte Formel, die davor steht. Winkler führt auch folgendes Beispiel an: "Eine befreundete Nichtmathematikerin assoziierte mit der Zahl 25 die Zahl 7 - weil die Ziffernsumme von 2 und 5 eben 7 ergibt. Ich selbst hingegen sehe bei 25 sofort ein Quadrat mit 5 mal 5 Punkten, und bei allen Mathematikerkollegen, die ich dazu befragt habe, war es ähnlich." Denn dem Mathematiker geht es primär um das mathematische Objekt (25 = Fünfundzwanzig = Twentyfive = . . ., unabhängig von der jeweiligen Bezeichnung) und nur selten um seine bloße symbolische Darstellung (im Fall von 25 durch die Ziffern 2 und 5), weshalb einen Mathematiker auch Zahlenmystik ziemlich kalt lässt. Winkler zieht einen Vergleich mit der Musik, in der es in der Hauptsache um den Klang geht und die Noten nur ein Hilfsmittel sind. Trockener Mathematikunterricht sei wie eine Musikstunde, in der man nur Noten schreibe und der Klang völlig ignoriert werde. "Wenn ein Mathematiker eine Formel sieht, erfreut er sich daran auch nur, wenn er etwas damit assoziieren kann", betont Winkler. Genauso wie einem echten Mathematiker viele Äußerlichkeiten, auf die im Schulunterricht Wert gelegt wird, völlig egal seien. "Es geht um das Verständnis", sagt Winkler, "um die richtigen Gedanken und Vorstellungen. Bei einer mündlichen Prüfung weiß ich oft schon nach einem Halbsatz, ob der Schüler oder Student den Stoff verstanden oder nur auswendig gelernt hat."
Was für mehr mündliche Prüfungen in der Schule spricht: "Bei einer Schularbeit gibt es kein Rausreden. Wenn die falsche Zahl dort steht, ist die Aufgabe nicht richtig", sagt Oudin. "Irgendwie ist im Mathematikunterricht alles völlig klar geregelt, Interpretationen waren bisher nicht so sehr gefragt", sagt Oudin. Im Hinblick auf die neue Reifeprüfung komme das schon eher vor, "da gibt es auch völlig neue Aufgabenstellungen." Auch in die modernen Schulbücher fließen immer mehr lebensnahe Textbeispiele ein, auch Projekte haben Platz. "Da hat man dann gar nicht mit Formeln zu tun, sondern muss zum Beispiel Daten erheben und umsetzen", erzählt die AHS-Lehrerin. Ein Schritt in die richtige Richtung? Hoffentlich.
Winkler und Hilmar betonen beide auch, wie wichtig die Sprache für die Mathematik ist, welche Bedeutung es hat, sich ausdrücken zu können: "Mathematik hat nicht nur viel mit Sprache zu tun, sie ist eine Sprache. Die Sprache der Naturwissenschaften", erläutert der Webdesigner. "Und sie hat gegenüber anderen Sprachen entscheidende Vorteile: In der Sprache der Mathematik gibt es keine Zweideutigkeiten, sie ist auf klare Formulierungen ausgelegt. Und sie ist eine universelle Sprache. Ich habe während meines Studiums mehrere französische und sogar russische Artikel gelesen - und verstanden, obwohl ich kein Wort Französisch oder Russisch spreche." In diesen Fällen erwiesen sich die mathematischen Formeln freilich als sehr hilfreich.
Die Sprache beherrschen
Um die Sprache der Mathematik zu erlernen, muss man allerdings erst einmal die eigene beherrschen. Und hier sieht Oudin eine Lücke: "Klare Ausdrucksweise und Textverständnis, daran mangelt es heute immer mehr, auch auf Grund fehlender Sprachkompetenz." Die auch von Winkler beobachteten Defizite betreffen also neben dem rein mathematischen Verständnis vor allem die allgemeine Sprachbeherrschung. Es geht daher nicht nur um das Unterrichtsfach Mathematik, sondern in jeweils unterschiedlichem Ausmaß auch um andere Fächer, insbesondere um den Unterricht in der Muttersprache. "Die Fächer Mathematik und Deutsch könnten - bei entsprechender Weiterentwicklung der Bildungsziele - einander also in sehr wertvoller Weise ergänzen und befruchten", ist Winkler überzeugt.
Zum Mathematikunterricht selbst fordert er: "Wann immer in der Schule gerechnet wird, müssen die Schüler einen Sinn dahinter erkennen können." Und auch die Bilderkraft - das Veranschaulichen etwa durch Skizzen - hält er für ebenso wichtig wie die Sprache. Dann gäbe es vielleicht auch mehr Mathematikbegeisterte. Denn das Potenzial sei weitaus größer als der Output, ist der Mathematiker überzeugt. Zumal in Zeiten von Taschenrechner und Computer das mechanische Rechnen an sich ohnehin in den Hintergrund treten könnte. "Wir haben noch in meiner Schulzeit an einem Trigonometrie-Beispiel die ganze Stunde gerechnet, mit Logarithmenbuch, Zwischenlösungen und so weiter. Heute ist das Beispiel in wenigen Minuten gerechnet, wenn man weiß, wie es geht", ergänzt Oudin. Überhaupt erleichtert es der Einsatz von Computern, den Fokus auf das Wesentliche zu legen, nämlich auf die Denkarbeit: "Algebrasysteme wie Derive und seit kurzem auch als Teil von Geogebra nehmen viel Arbeit ab, zum Beispiel beim Lösen von Gleichungen oder Gleichungssystemen", erklärt die AHS-Lehrerin. Mit Geometrieprogrammen wie Geogebra, das an ihrer Schule allen Schülern gratis zur Verfügung steht, kann sie ganz schnell bestimmte Zusammenhänge veranschaulichen und auch Teile von Aufgaben lösen wie zum Beispiel Integrale. Das verbessert auch die Chancen von rechenschwachen, aber nicht unbedingt denkfaulen Schülern. Wobei: Echte Rechenschwäche, im Fachjargon Dyskalkulie genannt, sei relativ selten, vermutet Lehrerausbildner Winkler. Die meisten Schüler, die mit Mathematik nichts anfangen können, hätten eher schlechten Mathematikunterricht.