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Europa ist eine Rechtsgemeinschaft. So tönt es quer durch den Kontinent, besonders vernehmlich immer dann, wenn das Gefühl vorherrscht, dass dieses Fundament der Europäischen Union in Frage gestellt wird.
Unstrittig ist, dass zu den herausragenden Leistungen der europäischen Kulturgeschichte die Entwicklung der Idee von Rechtsstaatlichkeit zählt. Erst funktionierte dieser Rechtsstaat ohne Demokratie, dann mit ihr, und heute können wir uns das eine ohne das andere nicht mehr vorstellen. Oder wollen es auf jeden Fall nicht.
Die Realität ist allerdings eine nicht unwesentlich kompliziertere Variante dieser Idealvorstellung.
Tatsache ist, dass sich die EU wie die Nationalstaaten zu enorm dynamischen Rechtsräumen verändert haben, die mittlerweile immer häufiger ganz ohne Zutun der politischen Entscheidungsträger nicht nur funktionieren, sondern sich weiterentwickeln. Und ohne Politik heißt in diesem Fall eben auch: ohne das Volk, ohne die Bürger.
Neues Recht wird nämlich immer öfter nicht von den Volksvertretungen geschöpft, sondern von den Höchstrichtern durch bindende Erkenntnisse. In dieser Entwicklung liegt die Gefahr einer Desynchronisierung von Politik und Recht, von Gesellschaft und Gesetz. Besonders spürbar ist das in der Flüchtlings-, Sozial- Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik.
Wobei gesagt werden muss, dass es auch den genau umgekehrten Weg geben kann, dass höchstgerichtliche Urteile nachhinkendes Recht mit einer vorausgeeilten sozialen Realität wieder versöhnen. Ein Beispiel ist etwa das Ende der Diskriminierung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, das oft erst durch Richter durchgesetzt wird.
Und trotzdem steckt in der ganz besonderen europäischen Beziehung zwischen Rechtsstaat und demokratisch legitimierter Politik Sprengstoff - und zwar nicht wenig. Die internationale Hochkonjunktur starker Männer mit zweifelhafter rechtsstaatlicher Gesinnung kann auch als Reaktion auf die von einem tatsächlichen oder imaginierten Volkswillen losgelöste Rechtsetzung gelesen werden. Sie alle inszenieren sich als Stimme des Volkes, welche die Macht der Richter, die sie als Agenten der Eliten diskreditieren, in die Schranken weist.
Rechtsstaat und Demokratie stehen in einem natürlichen, dem Grundsatz nach unauflösbaren Spannungsverhältnis. Es liegt in der Verantwortung der Politik, diese Beziehung zu schützen, etwa indem sie sich nicht hinter Gerichtsurteilen versteckt oder sich auf sie herausredet. Vor allem geht es darum, dass Parteien und Regierungen von sich aus Mehrheiten suchen für das, was sie als richtig und wichtig erachten. Der Rechtsstaat darf nicht gegen die Demokratie ausgespielt werden - und umgekehrt.