Man erinnert sich: Im Jahr 2000 war in Deutschland die Zahl der rechtsextremistisch orientierten Straftaten um 60 Prozent auf 16 000 angestiegen. Das Ansehen Deutschlands in der Welt drohte Schaden zu nehmen. Die Bundesregierung zog die Reißleine, um die sich ausweitende braune Welle einzudämmen. Jährlich 45 Millionen Mark wurden für ein "Aktionsprogramm gegen Extremismus und Gewalt" lockergemacht.
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Mehr als 3700 Projekte an Schulen, Kindergärten, Jugendclubs, Vereinen und Gemeinden erhielten Fördergelder. Kaum ein Bürgermeister oder Schulleiter konnte sich diesem "Aufstand der Anständigen" entziehen, der kurzfristig zu einem Zurückdrängen und Abflauen rechtsextremistischer Aktivitäten führte. Leider nur vorübergehend, wie eine Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung feststellte, denn ein Großteil der Projekte habe sich vorwiegend als "Strohfeuer", als Jubelveranstaltungen ohne nachhaltige Wirkung erwiesen.
Das zeigt sich offenkundig auch im nun zu Ende gehenden Jahr. Die Zahl der rechten Aktivitäten und Gewalttaten ist wieder angestiegen. Der Verfassungsschutz zählt bundesweit immer noch 10.000 gewaltbereite Rechtsextremisten und 170 Kameradschaften. Im statistischen Schnitt begehen sie täglich eineinhalb Gewalttaten und stündlich eine Straftat. Starke Betroffenheit und Erschrecken lösten die rechten Wahlerfolge am 19. September aus. Die NPD erhielt in Sachsen 9,2 Prozent der Stimmen und in Brandenburg zog die DVU mit 6,1 Prozent Stimmenanteil erneut in den Landtag ein. Letzteres wird von politischen Beobachtern als "beispielloser Erfolg" und "qualitativer Sprung" für die Entwicklung des Rechtsextremismus gewertet.
Offenbar ist in der rechten Szene ein Bündeln der Kräfte im Gange. Die "Kameradschaften" bemühen sich um die Heranziehung des politischen Nachwuchses. Auch über das Internet werden vorwiegend Jugendliche geködert. Immobilien werden erworben, um sie als Ausbildungs- und Schulungsobjekte zu nutzen. Rechte Unternehmer verdienen an Musikrechten, Konzerten und Bekleidungsmarken Millionen. Vor allem im Osten fallen die rechten Parolen auf fruchtbaren Boden, weil hier die Unzufriedenheit drastischer ist. Es wird schlecht verdient, es gibt kaum noch größere Industrieunternehmen und die Arbeitslosenquote ist doppelt so hoch wie in Westdeutschland. Auf diesem Boden wachsen die Chancen rechter Demagogen. Da wird "Arbeit zuerst für Deutsche", "Schaffung einer Volksgemeinschaft", "Abbau der Ausländerbeschäftigung", "Großeinsatz eines neuen Arbeitsdienstes" gefordert und ein "Sturm auf die Rathäuser", eine "Volksfront von rechts" und "heute Sachsen - morgen Deutschland" angekündigt.
In den jüngsten Herbstwochen verstärkten die Rechten ihre Aktivitäten besonders in Ostberlin und dem brandenburger Umfeld mit spektakulären Aufmärschen, um "die Straße zurück zu erobern". 1600 Neonazis veranstalteten am 13. November einen "Heldengedenktag" auf dem größten deutschen Soldatenfriedhof in Halbe, wo 23 000 Kriegsopfer beigesetzt sind. Diese Gedenkstätte wollen die Rechten zu einem Wallfahrtsort machen und haben schon bis 2020 Demonstrationen angemeldet.
Im Berliner Stadtteil Adlershof forderten mehrere "Freie Kameradschaften" mit mehreren 100 Teilnehmern ein "nationales Jugendzentrum" ein. Im Bezirk Lichtenberg demonstrierten Ende November die gleichen braunen Cliquen, um ihr "rechtes Kernland" zu markieren. Für den 8. Mai 2005 hat die NPD zum 60. Jahrestag der Befreiung einen Aufmarsch am Brandenburger Tor angemeldet. Er steht unter dem Motto "60 Jahre Befreiungslüge - Schluss mit dem Schuldkult".
Hand in Hand mit solchen spektakulären Aufmärschen gehören Gewalt und geistiger Terror zum politischen Arsenal der Braunen. Laut Verfassungsschutz gibt es in Berlin 2400 Rechtsextremisten. Bis September wurden 698 Verfahren eingeleitet, darunter 48 wegen brutaler Überfälle und 130 wegen antisemitischer Straftaten.
Verstärkt hat sich das Bemühen, durch taktische Wandlungen und Tarnungen Akzeptanz zu finden. "Glatzen" sind ins Bürgerliche abgetaucht, setzen sich geschickt für scheinbare Menschenrechte ein oder bilden Bürgerinitiativen. Bei Teilen der Bevölkerung finden sie offene Ohren. Andere kopieren linke Symbolik, wandeln sie ab, setzen Freiheitskampf mit dem Kampf um braune Freiräume gleich und locken mit Lagerfeuern, Kneipenabenden und Konzerten. Immer mehr wird sichtbar, dass der Rechtsextremismus keine Randerscheinung der Gesellschaft ist, sondern auch aus der Mitte der Gesellschaft kommt.
Positiv ist anzumerken, dass sich der Widerstand gegen die rechten Aktivitäten spürbar verstärkt hat. Die Proteste gegen Nazimärsche haben sich vervielfacht. Die Braunen kommen nicht mehr ungestört davon. Mit großer Zustimmung wurde hier der Brief der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek an den Adlershofer Bürgerverein aufgenommen, in dem sie sich mit den Gegendemonstranten solidarisierte.
Nach Lage der Dinge ist damit zu rechnen, dass die Rechten besonders im Osten ihre Strukturen weiter ausbauen. Die beiden rechtsradikalen Parteien NPD und DVU haben sich entschieden, bei den Bundestagswahlen 2006 ein Bündnis einzugehen. In einer diesbezüglichen Forsa-Umfrage unter 1000 Berlinern konnten sich 6 Prozent vorstellen, bei einer Bundestags- oder Abgeordnetenhauswahl eine der rechtsradikalen Parteien zu wählen. Dabei fiel auf, dass bei den Arbeitern sogar 19 Prozent, bei den Arbeitslosen weitere 11 Prozent diese Parteien wählen könnten.