EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen changiert in ihrer Rede zur Lage der Europäischen Union zwischen Zweckoptimismus und überraschend deutlichen Ansagen.
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Gut besucht, aber nicht gefüllt. Das EU-Parlament in Brüssel ist Corona-bedingt nicht voll besetzt, es heißt Masken auf und Abstand halten beim großen Ereignis, das den politischen Herbst in der EU einleitet. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hält eine Rede, nicht irgendeine, sondern die Rede zur "Lage der Europäischen Union". Es ist ihre erste, aber nicht deshalb ist die allgemeine Aufmerksamkeit so groß, sondern weil Europa und die Welt im Argen liegen, weil man gar nicht mehr weiß, auf welche Krise man zuerst schauen soll. Corona, Wiederaufbau, Klima, Brexit, Migration, Rechtsstaatlichkeit - von der Leyen wird in 80 Minuten auf alles das eingehen, wird zwischen den Themen springen und auf das eine oder andere wieder zurückkommen. Die Rede ist von langer Hand vorbereitet, angeblich unter Beteiligung mehrerer Teams, und vermutlich hat die Präsidentin auch selbst gefeilt, zum Schluss wird man feststellen können: Diesmal ist sie, im Gegensatz zu früheren Anlässen, persönlicher, wirkt emotionaler.
"Unsere Welt ist fragil", sagt die Deutsche, nachdem sie Medizinern, Pflegern, Helfern und allen anderen an der vordersten Covid-Front gedankt hat. Das Virus habe die Schwächen des Gesundheitssystems offenbart und die "Grenzen eines Modells, das Wohlstand vor Wohlergehen stellt". Es habe auch gezeigt, wie fragil die ganze Wertegemeinschaft eigentlich sei. So weit lehnt sie sich zu diesem Zeitpunkt hinaus, dann folgt eine Sequenz mit viel Zweckoptimismus und "Chancen für die Zukunft"-Argumenten und was die EU nicht alles zur Krisenbewältigung geschafft habe, etwa Grüne Spuren an gesperrten Grenzen und 600.000 Urlauber heimgeflogen. Man denkt sich, jetzt kommt wieder der schon bekannte Phrasen-Tsunami.
Gesetzesvorschlag für europäische Mindestlöhne
Doch von der Leyen hat anderes im Sinn, das stellt sich allmählich heraus. Sie spricht plötzlich von konkreten Schritten, das überrascht beinahe. Zusätzliche Befugnisse für die Europäische Arzneimittelagentur und das Präventionszentrum ECDC (welche genau, bleibt aber offen); eine eigene Biomedizin-Agentur nach Vorbild der USA soll aufgebaut werden, man müsse über die Zuständigkeiten im Gesundheitsbereich sprechen und kommendes Jahr ist ein Gesundheitsgipfel im G20-Format auf der Agenda.
Jetzt ist die Präsidentin warmgelaufen. Die Kommission legt einen Gesetzesvorschlag für europäische Mindestlöhne vor, die entweder über Gesetze oder Tarifverhandlungen geregelt sind. Zur Stabilisierung der sozialen Marktwirtschaft habe ihre Behörde erstmals in der Geschichte die allgemeine Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts aktiviert und Beihilfen in Höhe von drei Billionen Euro genehmigt - den aktuellen Disput mit Österreich erwähnt sie nicht.
Dann geht es endlich um von der Leyens Lieblingsthema, den Green Deal. Wie erwartet, schlägt sie eine weitere Anhebung der Zielvorgabe für das Einsparen von Emissionen bis 2030 vor, nun sollen es 55 statt 40 Prozent sein. Das EU-Parlament ist ein gutes Forum für solche Pläne; um die Dramatik zu unterstreichen, wählt von der Leyen auch einen Satz, den man von jemand anderem kennt: "Wir schaffen das." Im kommenden Jahr will die Kommission alle EU-Klima- und Energievorschriften überarbeiten. Und klar, die Kombination aus Green Deal und Wiederaufbauprogramm bietet sich geradezu an für Optimismus: Nicht nur 30 Prozent, vielmehr 37 Prozent der Mittel aus NextGenerationEU sollen klimarelevant ausgegeben werden, fast ein Drittel der 750 Milliarden Euro des Aufbauprogramms soll über grüne Anleihen laufen. Von der Leyen erinnert an Wasserstoff-Pilotprojekte in der schwedischen Stahlindustrie und spricht von einer Million Ladestationen für E-Fahrzeuge. Sie kommt auf das "digitale Jahrzehnt" zu sprechen, in dem wir uns bereits befinden, und sie erzählt von Innovationsclustern, brach liegenden Industriedaten und einer aufzubauenden "europäischen Cloud".
Warnung vor dem "Impfstoffnationalismus"
Viel Redezeit ist schon verstrichen, Ursula von der Leyen kommt noch einmal auf die Pandemie zurück und die Gefahren eines "Impfstoffnationalismus", das Thema Impfungen und Arzneimittel führt sie zu China und noch bevor einem einfallen kann, dass Menschenrechtsverletzungen und Rechtsstaatlichkeit und Migration noch immer nicht vorgekommen sind in der Rede, spricht die Präsidentin plötzlich über Hongkong und die Uiguren und appelliert an die Mitgliedsländer, entsprechende Beschlüsse endlich mit qualifizierter Mehrheit möglich zu machen: "Fasst Euch ein Herz!" Und Augenblicke später gibt sie bekannt, dass die Kommission nun dem Wunsch des Parlaments nachkommen und einen Vorschlag für einen europäischen "Magnitsky Act" einbringen wird (zur Verfolgung von Menschenrechtsverletzern, Anm.). Aber sie ist noch nicht fertig, spricht vom Giftanschlag auf Alexej Nawalny und andere solche Attacken und sagt dann: "Dieses Muster ändert sich nicht - und keine Pipeline wird daran etwas ändern können." Das ist so klar, dass kaum drei Stunden später Kritik aus dem Kreml kommt: Man solle ein wirtschaftliches Thema doch bitte nicht politisieren.
Nur kurz verweilt die Rednerin bei der Türkei, dann kommt sie auf die Beziehungen zu den USA und Großbritannien zu sprechen und wendet sich mit einem Zitat von Margret Thatcher an Boris Johnson: "Großbritannien bricht keine Verträge. Es wäre schlecht für Großbritannien, schlecht für unsere Beziehungen zum Rest der Welt und schlecht für jeden künftigen Handelsvertrag", hat die Eiserne Lady dereinst gesagt und von der Leyen wirkt in diesem Augenblick auch eisern.
Die Dublin-Verordnung soll Geschichte werden
Und dann geht es doch noch um Migration, kommende Woche will die Kommission ja schon ihre Asylreform vorstellen und ein Detail daraus gibt es später in der Debatte, als von der Leyen sagt: "Die Dublin-Verordnung soll abgeschafft werden, wir denken an ein neues Governance-System." Die Verwerfungen zwischen den Ländern seien noch nicht vorbei, aber mit einem "menschlichen und menschenwürdigen" Ansatz müsse sich eine Lösung finden lassen. Schließlich sagt sie: "Die Rettung von Menschen in Seenot ist keine Option, sondern Pflicht", und das empfinden viele in der Deutlichkeit als bemerkenswert. Jene Länder, die ihre gesetzliche oder moralische Pflicht tun, müssten sich auf die Solidarität der gesamten EU verlassen können. Die Kommission will dafür sorgen, dass Asyl- und Rückführungsverfahren enger miteinander verknüpft werden. Und es sei klar zu unterscheiden, ob jemand das Recht habe, hier zu bleiben, oder eben nicht. Der Name Moria fällt dann doch, als mahnendes Beispiel. Später, in der Debatte mit den Abgeordneten, brandet das Thema stärker auf.
Zurückhaltend und für manche Beobachter somit enttäuschend nur schneidet von der Leyen die Rechtsstaatlichkeit an, hier bleibt sie an der Oberfläche, wendet sich eher den Themen Hass und Antisemitismus zu und schickt nebenbei eine deutliche Mahnung nach Polen: "Sogenannte LGBTQI-freie Zonen sind Zonen, in denen der Respekt vor Mitmenschen abhandengekommen ist. Dafür gibt es in unserer Union keinen Platz." Die Kommission werde demnächst eine Strategie zum Ausbau der Rechte sexueller Minderheiten vorlegen.
Sie schließt ihre erste Rede zur Lage der Union mit einer Bitte an die Abgeordneten und wohl alle Europäer: "Reden wir Europa nicht schlecht. Arbeiten wir lieber daran."