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Als Krisenherd von der Weltöffentlichkeit vergessen, soll Tschetschenien am 23. März über seine neue Verfassung abstimmen. Russlands Präsident Putin spricht von einer Chance, viele Bewohner des zerstörten Landes sind äußerst skeptisch.
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Die Geiselnahme im Moskauer Musicaltheater durch tschetschenische Terroristen letzten Oktober und die darauf folgende blutige Befreiungsaktion mit 170 Toten hatte eine für Präsident Wladimir Putin unangenehme Folge: Seither ist das Problem Tschetschenienkrieg aus der russischen Tagespolitik nicht mehr wegzubekommen. Rufe nach einer politischen Lösung des Konfliktes werden immer lauter. Am 24. Dezember 2002 unterstützte eine überwältigende Mehrheit im russischen Parlament eine dahingehende Resolution. Nun hat Putin den Tschetschenen für den 23. März 2003 eine Volksabstimmung über ihre neue Verfassung verordnet. Der Verfassungsentwurf soll Tschetschenien als festen Bestandteil der russischen Föderation einzementieren. Weiters soll über die Gesetzesentwürfe für die innerhalb eines Jahres stattfindenden Wahlen des tschetschenischen Parlaments und des tschetschenischen Präsidenten abgestimmt werden.
Putin hat den Tschetschenienkrieg September 1999, im Vorfeld der letzten russischen Wahlen, gestartet. Mit allen zur Verfügung stehenden militärischen Mitteln versuchen die Russen seither vergeblich, die abtrünnige Kaukasusrepublik zu unterwerfen. Es scheint nicht in Putins Interesse zu liegen, diese Altlast in die russischen Präsidentenwahlen im März 2004 hineinzutragen. Ist das Referendum nun ein erster Schritt in Richtung politischer Lösung des seit über 200 Jahren andauernden Konfliktes?
Putin versucht, den Schein der Normalität zu wahren. Er will den Eindruck einer normalen Volksabstimmung in einer befriedeten Teilrepublik vermitteln. Er zieht Truppen ab, etwa 3.000 Mann bis jetzt - ein Bruchteil der dort stationierten Streitmacht. Er spricht vom Rückhalt des Referendums in der tschetschenischen Bevölkerung. Die 12.000 notwendigen Unterschriften für die Initiierung der Volksabstimmung waren den fix stationierten und wahlberechtigten Soldaten nicht schwer abzuringen.
In Wahrheit war die Lage für die Zivilbevölkerung noch nie so schlimm in Tschetschenien. Dort herrscht Krieg. Es gibt kaum Strom, es gibt kaum Trinkwasser, etwa drei Viertel der Bausubstanz sind zerstört. Rund 80.000 Angehörige des russischen Militärs, diverser Sondertruppen des Innenministeriums, des Inlandsgeheimdienstes FSB und der Polizei OMON halten sich im Land auf, um die Lage halbwegs unter Kontrolle zu halten.
Militär und FSB geben zu, dass sich die Durchführung des Referendums vor allem im Süden äußerst schwierig gestalten wird. Schon die Registrierung der Wähler in den Trümmerhaufen ist eine Herausforderung. Ist die Sicherheitslage im Norden unstet, so ist sie in Grosny, der Hauptstadt, schwierig und südlich davon vollkommen unberechenbar. Das russische Militär verzichtet inzwischen aus Angst vor den tragbaren Raketenwerfern der Rebellen fast völlig auf Helikopterflüge über den Süden des Landes. Beinahe täglich kommt es zu Auseinandersetzungen mit sogenannten "bewaffneten Banden".
Es dürfte zumindest im Süden des Landes schwierig werden, die von den erbarmungslosen Strafaktionen des russischen Militärs eingeschüchterte Zivilbevölkerung von der hehren Absicht der Volksabstimmung zu überzeugen. Parallel zu den Vorbereitungen des Referendums geht das unbarmherzige Vorgehen der Besatzungssoldaten unvermindert weiter. "Werden wir aus einem Haus beschossen, zerstören wir das Haus, werden wir aus einem Dorf beschossen, zerstören wir das Dorf", so das Motto.
Vertreter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarates fanden bei einer klärenden Mission Anfang März keine geeigneten Rahmenbedingungen für die Abhaltung einer Volksabstimmung vor. Die Internationale Helsinki Föderation für Menschenrechte (IHF) fordert dringend eine Aufschiebung des Referendums und prangert die massiven Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien an, die erst gestoppt werden müssten. Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial bezeichnet Tschetschenien als "Gebiet der Unterdrückung und des Terrors". Der Europarat konnte sich in seiner Parlamentarischen Versammlung am 31. Jänner nicht dazu durchringen, Präsident Putin offiziell zu einer Verschiebung aufzufordern. Der Tschetschenien-Beauftragte des Europarates, der englische Lord Frank Judd, trat daraufhin zurück und warnte vor den zusätzlich destabilisierenden Folgen einer unter Zwang durchgeführten Volksabstimmung.
Der Europarats-Menschenrechtskommissar Alvaro Gil-Robles beschreibt in seinem Bericht die "Unsicherheit und die Straflosigkeit" als Hauptprobleme in Tschetschenien. Das russische Außenministerium hat erst am 5. März den Vorschlag des Europarates für die Einrichtung eines Kriegsverbrechertribunals als "absurd" abgelehnt.
Der Generalsekretär des Europarates, Walter Schwimmer, spricht trotzdem von der "Möglichkeit des Beginns eines dringend notwendigen Normalisierungsprozesses". Diese Hoffnung würde von einem Teil der tschetschenischen Bevölkerung geteilt. Ein anderer Teil zeigt sich freilich unversöhnlich. Der im Februar 1997 demokratisch gewählte, und jetzt im Untergrund lebende, tschetschenische Präsident Aslan Maschadow kündigte bereits massive Störmaßnahmen an und rief die Bevölkerung auf, das Referendum zu boykottieren.
Putin lässt sich dadurch nicht beirren, er will die Volksabstimmung. Medienberichten zufolge drohen die lokalen Behörden den zehntausenden Flüchtlingen in den Lagern in Inguschetien die Nahrungsmittellieferungen zu stoppen, wenn sie nicht am Referendum teilnähmen. Anfang der Woche startete Putin einen letzten Versuch die skeptischen Tschetschenen zu überzeugen und versprach in einer Fernsehansprache die "Erlangung einer weitreichenden Autonomie" innerhalb der russischen Föderation bei der Zustimmung zum Verfassungsentwurf. Dumm, dass die meisten Tschetschenen keinen Fernseher haben.