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Reflexionen in der Holzhütte

Von Christian Hütterer

Reflexionen
Henry David Thoreau (1817-1862), hier im Jahr 1856.
© Foto: wikipedia

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"Ich habe mir den Wahlspruch zu eigen gemacht: ,Die beste Regierung ist die, welche am wenigsten regiert.‘ . . . Wenn er verwirklicht wird, dann läuft es darauf hinaus: ,Die beste Regierung ist die, welche gar nicht regiert‘." Mit diesen Worten beginnt Henry David Thoreau seinen Aufsatz "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat".

Bis heute gilt Thoreau als einer der einflussreichsten politischen Denker in der Geschichte der Vereinigten Staaten, und seine Lehren haben weltweiten Niederschlag gefunden.

Thoreau wurde am 12. Juli 1817 in der Stadt Concord in Massachusetts als Sohn eines Fabrikanten geboren. Sein Großvater war von den britischen Kanalinseln nach Amerika emigriert und hatte dort ein Vermögen aufgebaut, sein Vater verlor es wieder. Thoreau wuchs daher in ärmlichen Verhältnissen auf und wurde von einem seiner Zeitgenossen als "hässlich wie die Sünde" mit einem "flegelhaften und rustikalen Benehmen, das gut zu seinem Äußeren passt" beschrieben.

Kurze Lehrerkarriere

Nach dem Studium in Harvard begann Thoreau an jener Schule zu unterrichten, die er Jahre zuvor selbst besucht hatte. Er sorgte dort aber bald für Verwunderung, weil er sich weigerte, seine Schüler körperlich zu züchtigen. Thoreau gab im Streit mit der Schulleitung seine Stellung auf und eröffnete gemeinsam mit seinem Bruder eine eigene Schule. Sein Unterrichtskonzept war für die damalige Zeit sehr progressiv und umfasste Spaziergänge in der Natur genauso wie Besuche in Unternehmen. Die Karriere als Lehrer sollte allerdings nicht lange dauern, denn nach dem frühen Tod seines Bruders entschloss sich Thoreau, zum Bedauern seiner Schüler, die Schule wieder zu schließen.

Zu jener Zeit galt Concord, heute eine Kleinstadt mit 18.000 Einwohnern, als eines der intellektuellen Zentren des Landes. Rund um den Schriftsteller Ralph Waldo Emerson hatte sich ein Kreis von Autoren und Philosophen gesammelt, welcher die Ideen des Transzendentalismus propagierte. Sie gingen in ihren Überlegungen von einer Güte aus, die sowohl den Menschen wie auch der Natur inhärent sei. Nach der Vorstellung der Transzendentalisten wird dieses Gute im Menschen durch die Gesellschaft und ihre Institutionen - vor allem Politik und Religion - verdorben.

Konsequenterweise traten sie dafür ein, dass der Mensch ein von den herkömmlichen Institutionen gelöstes und möglichst einfaches Leben im Einklang mit der Natur führen sollte.

Thoreau hatte eine umfassende humanistische Bildung genossen und interessierte sich besonders für indische und chinesische Literatur. Er fand darin zahlreiche Beispiele für ein kontemplatives Leben und das Prinzip der Gewaltlosigkeit. Diese literarischen Einflüsse sowie die Denkweise der Transzendentalisten reiften in ihm, und am 4. Juli 1845 entschloss er sich, diese theoretischen Überlegungen in die Praxis umzusetzen: Er zog sich in eine einfache Holzhütte am Ufer des Teiches Walden zurück. Später schrieb er darüber: "Ich ging in die Wälder, weil ich bewusst leben und mich den wesentlichen Dingen des Lebens stellen wollte, um zu sehen, ob ich nicht lernen könnte, was es mich zu lehren hatte, und um nicht, wenn ich sterben sollte, zu entdecken, dass ich nicht gelebt hatte . . . Ich wollte tief leben, all das Mark des Lebens aufsaugen, so robust und spartanisch leben, um all das zu vertreiben, was nicht Leben war."

Thoreau lebte in seiner Hütte aber nicht wie ein Einsiedler, denn der Walden-See liegt nur etwa vier Kilometer von Concord entfernt, eine Straße führte knapp an Thoreaus neuem Heim vorbei, und er hatte weiterhin Kontakt zu seiner Familie und zu Bekannten. Er verbrachte zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage in dieser Hütte und fasste seine Erlebnisse in dem Buch "Walden oder das Leben in den Wäldern" zusammen.

In diesem Werk komprimierte Thoreau seinen Aufenthalt auf ein einziges Jahr, um durch den Verlauf der Jahreszeiten seine eigene geistige Entwicklung symbolisch darstellen zu können. In einer Mischung aus Tagebuch und Sinnsuche beschrieb er in diesem Buch das einfache Leben in der Natur, das ihm auch genug Zeit für allgemeine Reflexionen über die Menschheit ließ.

Nacht im Gefängnis

Das Werk wurde ursprünglich zurückhaltend aufgenommen, entwickelte sich im Lauf der Zeit jedoch zu einem Klassiker der amerikanischen Literatur, in dem die Einfachheit und Harmonie der Natur als Beispiele für das Zusammenleben der Menschen dargestellt werden.

Thoreaus idyllischer Aufenthalt am See wurde allerdings kurz unterbrochen, denn im Juli 1846 musste er eine Nacht im Gefängnis verbringen. Sein Verbrechen: Er hatte sechs Jahre lang seine "Kopfsteuer" nicht bezahlt. Thoreau begründete diesen Steuerboykott mit dem Argument, dass er eine - in seinen Augen ungerechte Regierung - nicht unterstützen wolle.

Dank der Hilfe seiner Tante, welche die Steuerschuld beglich, blieb es zwar bei dieser einzigen Nacht im Gefängnis, dennoch beeinflusste dieses Ereignis Thoreau nachhaltig.

Ungehorsams-Pflicht

Drei Jahre nach diesem Erlebnis veröffentlichte er sein Buch "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat". Thoreau forderte in diesem Werk, das bis heute eine Vielzahl von Anhängern gefunden hat, dazu auf, sich dem staatlichen Recht nur zu beugen, wenn dieses mit den persönlichen Überzeugungen des Individuums übereinstimme. Dieser Maßstab gilt aber nicht nur für Diktaturen, sondern ist nach Thoreaus Meinung auch an demokratisch getroffene Entscheidungen anzulegen: "Wenn ein Gesetz so beschaffen ist, dass es aus dir den Arm des Unrechts an einem anderen macht, dann sage ich: Brich das Gesetz. Lass dein Leben Gegengewicht sein, um die Maschine aufzuhalten. Auf jeden Fall muss ich zusehen, dass ich mich nicht für ein Unrecht hergebe, das ich verdamme."

Thoreau forderte seine Leser auf, dem individuellen Gewissen zu folgen anstatt unkritisch den Entscheidungen einer Mehrheit zu folgen: "Muss ein Bürger auch nur einen Moment lang oder nur im geringsten sein Gewissen dem Gesetzgeber überlassen? Wozu hat jeder Mensch dann ein Gewissen? Ich denke, dass wir zuerst Menschen sein sollten und erst dann Untergebene. Man sollte nicht den Respekt vor dem Gesetz haben, sondern vor der Gerechtigkeit. Ich habe nur das Recht auf eine einzige Verpflichtung und das ist, zu jeder Zeit das zu tun, was mir recht erscheint."

Nach seiner Rückkehr vom Walden-See musste Thoreau Abstriche an seinem idealistischen Lebensentwurf machen, sich den alltäglichen Zwängen beugen und Geld für seinen Lebensunterhalt verdienen. Er versuchte sich in verschiedenen Berufen und nahm schließlich eine Stelle als Landvermesser an, weil ihm dies ermöglichte, viel Zeit in den Wäldern zu verbringen. In Tagebüchern notierte er das Werden und Vergehen der Natur rund um Concord. Neben seinen politischen Schriften wurde die Natur Schwerpunkt seines Schaffens - und noch heute gilt Thoreau als einer der bedeutendsten Vertreter des "nature writing", jenes typisch amerikanischen literarischen Genres, in dem sich Beschreibungen der Natur mit persönlichen Anmerkungen und philosophischen Überlegungen vermischen.

Doch noch einmal setzte sich Thoreau mit politischen Fragen auseinander. Er begann, sich in der Bewegung der Abolitionisten, die für die Abschaffung der Sklaverei eintraten, zu engagieren. Thoreau hielt Vorträge zu diesem Thema und lernte dabei John Brown kennen. Brown war ein überzeugter Gegner der Sklaverei und schreckte dabei auch vor radikalen Schritten nicht zurück: 1859 überfiel er mit einer Gruppe von Gleichgesinnten sogar einen Stützpunkt der Armee, um Waffen zu erbeuten. Das Vorhaben scheiterte, Brown wurde gefangen genommen und zum Tode verurteilt. Thoreau verfasste daraufhin eine Streitschrift, in der er den Aktivisten verteidigte. Er präsentierte Brown darin als einen Mann, der in einer beispielhaften Weise seinem Gewissen folgte und sich voll und ganz für sein Vorhaben hingab. Thoreau sah in Brown keinen Verbrecher, sondern einen Mann, der sich strikt an die Verfassung der Vereinigten Staaten hielt und sich deswegen gegen die vom Staat tolerierte Sklaverei erheben musste.

Nachfolger Ghandi

Aus gesundheitlichen Gründen musste Thoreau sein Engagement in der Bewegung gegen die Sklaverei aber bald wieder beenden und sich in das Privatleben zurückziehen. In den letzten Jahren seines Lebens widmete er sich vor allem Naturbeschreibungen. Thoreau, der an Tuberkulose litt, starb am 6. Mai 1862 im Alter von 44 Jahren.

Thoreaus politische Schriften hatten über seinen Tod hinaus vielfache Wirkung. Im Dezember 1907 wurde in der damals britischen Kolonie Südafrika ein junger Rechtsanwalt namens Mohandas Gandhi wegen Widerstandes gegen die Behörden verhaftet. Während seines zweimonatigen Aufenthaltes im Gefängnis setzte sich er mit den Ideen Thoreaus auseinander, und vor allem das Werk über den Ungehorsam gegen den Staat beeindruckte ihn.

Gandhi verband Thoreaus Ideen mit indischen Gedanken und formte daraus seine Lehre vom gewaltfreien Widerstand. Er kehrte 1914 in seine Heimat zurück und begann, für die Unabhängigkeit des Landes einzutreten. Erst 1947 war Gandhis langer Kampf erfolgreich und der britische Premierminister Clement Attlee musste die Unabhängigkeit Indiens verkünden. Ironie der Geschichte: Attlee stand an der Spitze einer Labour-Regierung - und gerade in dieser Partei waren Thoreaus Ideen über den politischen Widerstand weit verbreitet.

King Erbe des Protests

Aber auch in seiner Heimat wurden Thoreaus Vorstellungen im 20. Jahrhundert neuerlich aufgegriffen. Martin Luther King schrieb in seiner Autobiographie, dass er bei Thoreau zum ersten Mal über gewaltlosen Widerstand gelesen hatte: "Ich war von der Idee fasziniert, dass man die Zusammenarbeit mit einem bösen System verweigern solle. Ich war davon so tief bewegt, dass ich das Werk mehrere Male las."

King sah sich selbst als Erben des Protestes in der Tradition von Thoreau und betonte, dass sowohl Sitzstreiks als auch friedliche Proteste Ergebnisse von Thoreaus Erkenntnis waren, dass "kein moralischer Mensch sich auf Dauer mit einem Unrecht abfinden kann".

Die Bücher von Thoreau sind auf Deutsch in mehreren Bänden und Ausgaben im Diogenes Verlag erschienen.Christian Hütterer, geboren 1974, Studium der Politikwissenschaft und Geschichte in Wien und Birmingham, ist im EU- und Internationalen Dienst der Parlaments- direktion tätig.