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Reflexionen über Russland

Von Adrian Lobe

Gastkommentare
Adrian Lobe ist freier Journalist, der fallweise auch für die "Wiener Zeitung" schreibt.

Plädoyer für eine verständigere Russland-Politik. Der aktuelle Konflikt verdeckt die kulturellen Beziehungen zwischen Russland und Europa.


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Anlässlich des Wien-Besuchs des russischen Präsidenten Wladimir Putin am Dienstag kam es wieder ins öffentliche Bewusstsein: Die Ukraine-Krise hat einen Keil in die europäische Öffentlichkeit getrieben. Die einen zeigen Verständnis für das Vorgehen Russlands auf der Krim und in der Ukraine, die anderen kritisieren Putin scharf für dessen Bruch des Völkerrechts.

Selten war der Tonfall so eisig zwischen Moskau und den europäischen Hauptstädten. Von einem neuen Systemkonflikt ist gar die Rede. Putins aggressive Außenpolitik, die von einer nationalistisch-imperialen Ideologie gespeist wird, zielt darauf ab, den angeblichen Faschisten in der Ukraine Einhalt zu gebieten. Gleichzeitig erblickt der Westen in Putins machistischem Gebaren, genährt von Bildern seines nackten Oberkörpers, ein faschistisches Fanal. Der Diskurs ist voller Missverständnisse.

Russland ist wild, chaotisch und barbarisch, so lautet das Stereotyp, das sich bereits im 19. Jahrhundert in Westeuropa über Russland ausgebildet hat. Der Russland-Baedeker beschrieb den "gemeinen Russen" mit drastischen Formulierungen. "Die Großrussen sind im Allgemeinen ein derber Menschenschlag von auffallend muskulösem Körperbau, kurzem Hals, starkem Nacken, breiten Schultern und kurzen Beinen (...) offene freie Gesichtszüge sind selten." Aus diesen Zeilen spricht die arrogante Haltung einer westlichen Zivilisation, die auf ein primitives Volk herabblickt.

Noch immer ist das Russland-Bild geprägt von Vorurteilen. Nun gibt es die - immer leiser werdenden - "Russland-Versteher", die unter Verweis auf die zunehmende Einkreisung westlicher Bündnisse den russischen Expansionsdrang nachvollziehen oder sogar zu rechtfertigen versuchen. Ganz abgesehen davon, dass dieses Argument nicht valide ist, kratzt das Deutungsmuster an der Oberfläche. Es trägt nur außenpolitischen Faktoren Rechnung. Das Problem wurzelt tiefer: Die russische Seele ist uns fremd. Wir betrachten Russland noch immer aus dem Blickwinkel des westeuropäischen Beobachters.

1911 veröffentlichte der Schriftsteller Joseph Conrad seinen Roman "Mit den Augen des Westens".

Wer, wenn nicht Conrad, dieser Grenzgänger zwischen den Kulturen, könnte uns besser den Antagonismus zwischen West und Ost erklären? Der polnische Patriot, der Engländer wurde und zu einem glühenden Verfechter westlicher Werte avancierte, legte dem russischen Fräulein Hadlin den wundervollen Satz in den Mund: "Ich würde Freiheit von jeder Hand nehmen, so wie ein hungriger Mann ein Stück Brot schnappen würde." Es zeigt den Hunger nach Freiheit in einem autoritären Zarenregime. Freiheit ist für Conrad ein universeller Wert.

Die große Mehrheit der Europäer reduziert die russische Kultur auf Tolstoi, Dostojewski und Tschaikowsky. Dabei wird vergessen, dass die russische Avantgarde (Kandinsky, Malewitsch) die Grundlage für die wichtigsten Kunstentwicklungen im 20. Jahrhundert geschaffen hat und die moderne Lyrik (Mandelstam, Brodsky) einen Höhepunkt der Weltliteratur markiert. Es wird Zeit, diesen Beitrag Russlands zum Weltkulturerbe jenseits aller Klischees und kraftmeiernder Worte zu würdigen.