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Erzählkunst und Pragmatismus, das ist es, was angelsächsische Wissenschafter ihren kontinentaleuropäischen Kollegen voraushaben. Wo Letztere nach geschlossenen Theoriegebäuden streben, analysieren Erstere ein Problem und suchen nach Lösungen, die auch in der Praxis bestehen können. Dass angelsächsische Wissenschafter darüber hinaus einen leicht verständlichen Stil pflegen, macht ihre Lektüre mitunter auch noch zu einem Vergnügen.
Der Brite Anthony Giddens ist ein würdiger Vertreter dieser angelsächsischen Schule. Der liberale linke Vordenker, der als Mastermind jenen Dritten Weg für die europäische Sozialdemokratie entwarf, den Tony Blair dann in den 90er Jahren in die politische Praxis als Erster umsetzte. Nun nimmt sich der 76-jährige Soziologe in seinem jüngsten Werk die Europäische Union vor und fragt in "Turbulent and Mighty Continent - What Future for Europe?" nach den Perspektiven für die Gemeinschaft.
Giddens, der sich offen als Pro-Europäer outet, tut das mit dem kühlen Blick der Briten auf die europäischen Kalamitäten: Er nennt die Konstruktionsdefizite der EU beim Namen, etwa die mangelnde Effizienz und politische Legitimität ihrer Institutionen und Arrangements, die wiederum zur Ausbildung einer informellen Schattenregierung unter Führung von Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel geführt hat. Letztere umfasst neben Merkel eine Handvoll weiterer Regierungschefs sowie die Chefs von Europäischer Zentralbank und Währungsfonds. Während die formellen Strukturen der EU - Giddens nennt sie "EU1" - beiseite geschoben wurden, rückte das informelle Entscheidungsgremium - EU2 - ins Zentrum des Krisenmanagements.
Giddens ist souverän genug, dem Leser nicht vorzugaukeln, er wisse auf alles eine Antwort. Der Mann, der als Erster den Begriff der Globalisierung in die politische Debatte eingeführt hat, gesteht offen ein, dass die Art und Weise, wie Globalisierung und Digitalisierung unser Leben verändern werden, nicht absehbar seien. Nationale Souveränität ist deshalb für Giddens genau so ein Relikt der Vergangenheit wie auch ökonomische Theorien, die auf den Staat als Retter in nachfrageschwachen Zeiten hoffen. "Beide", so Giddens im Blick auf Souveränität und Keynesianismus, stammen "aus einer Zeit, die sich von der, in der wir heute leben, massiv unterscheidet."
Für Giddens liegt auf der Hand, dass weder EU1 - also die bestehende Institutionenstruktur - noch EU2 - Merkel, Draghi und Co - Europa langfristig stabilisieren können. Als Lösung fordert er eine effiziente politische Führungsstruktur für die Gemeinschaft, die neben einer Fiskalunion auch eine politische Union umfassen müsse. Und zwar je schneller, desto besser. Giddens Verständnis von einer stärker integrierten Union mit klaren, effizienten und demokratisch legitimierten Entscheidungsstrukturen läuft dabei allerdings auf einen europäischen Bundesstaat hinaus, nicht auf einen Zentralstaat.
Entsprechend pragmatisch plädiert Giddens im Gegenzug zur Ver-Bundesstaatlichung der EU für eine Rückkehr bestimmter Kompetenzen in nationale oder regionale Hoheit. Die Sorge der EU-Skeptiker vor einem abgehobenen bürokratischen Zentralismus sei nicht völlig unbegründet. Umgekehrt lässt der Autor keinen Zweifel daran, dass ein Auseinanderbrechen der Eurozone für den künftigen Stellenwert Europas in der Welt fatal wäre: Entweder ringt sich die EU zu einer tiefreichenden Reform durch, die auch vor Tabuthemen wie dem Sozialstaat, der Immigrationspolitik nicht Halt machen darf; oder sie wird auf internationaler Ebene keine Rolle spielen.
Die Ironie des Euros ist dabei, dass seine Zukunft das Schicksal der EU im Negativen wie im Guten bestimmt: Die Krise der Gemeinschaftswährung zwinge die Union, endlich die Konstruktionsfehler ihrer Anfangsjahre zu beheben. Dass dies gelingt, ist für Giddens angesichts der politischen Widerstände keineswegs ausgemacht. Besser wäre es allerdings zweifellos.
Sachbuch
Turbulent and Mighty Continent. What Future for Europe?
Anthony Giddens
Polity Press, 224 Seiten, 20 Euro