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Reformthemen des Sozialstaats

Von Wolfgang Mazal

Politik

Sozialreform ist notwendig, um die innere Akzeptanz des Systems zu erhalten: Wer das Festhalten am Erreichten zur politischen Maxime macht, handelt populistisch. Wer Veränderungen per se als Sozialabbau madig macht, gefährdet die Stabilität des Systems.


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Wer - wie ich - den Sozialstaat als eine historische Errungenschaft und zugleich als Visitkarte und Asset für den "Standort Europa" in der Welt begreift, kann nicht darüber hinwegsehen, dass Änderungen im Sozialstaat notwendig sind: Wenn wir dieses Asset erhalten wollen, müssen wir dafür Sorge tragen, dass es nicht bis zur Unkenntlichkeit durch Systembrüche überwuchert und in seinen mentalen und finanziellen Grundfesten morsch wird.

Mühsame Systempflege

Die historische Erfahrung zeigt in der Sozialpolitik eine bedauerliche Asymmetrie: Bei der Schaffung neuer Systemelemente können alle zufrieden sein, weil es die Jahrhundertereignisse gibt, für die sich die Politik applaudieren lassen kann; bei der Pflege des Systems und seiner Weiterentwicklung hingegen zeigt sich die Sozialpolitik als eine der "kleinen Schritte": Hier geht es darum, einmal Gewonnenes zu adaptieren, Korrekturen anzubringen, bestehende Regelungen weiter zu entwickeln und vor allem: bestehende Ausgestaltungen des Systems darauf hin zu prüfen, ob sie immer noch sinnvoll, erforderlich, gerecht sind.

Das ist so mühsam wie unbedankt und bereitet im politischen Alltag große Probleme: Es kann sich nämlich als erforderlich erweisen, aus Gründen der Weiterentwicklung und Erhaltung des Gesamtsystems bestehende Regeln unter Umständen abzuschaffen und Schutzniveaus, die in der Vergangenheit wichtig waren, zu reduzieren, um neue Aufgaben erfüllen zu können.

In solchen Phasen punktet der Populismus, greift der Klientelismus um sich, kann man an Neidkomplexe appellieren. Obwohl solche Phasen für die Nutznießer bisheriger Prioritätensetzungen unangenehm sein mögen, sind sie zur Erhaltung des Systemganzen unabdingbar; nicht zuletzt steckt darin auch eine Konsequenz des demokratischen Systems: Es muss dem Gesetzgeber offen stehen, neue Aufgaben aufzugreifen und alte hintanzustellen, sonst würden die Entscheidungen der Vergangenheit die Zukunft paralysieren.

Dabei ist es freilich wichtig zu betonen, dass der Wandel seine Grenzen hat: Juristisch sind es die Grundrechte; politisch jene Schutzanliegen, die in unserer Gesellschaft durch den Willen der Mehrheit getragen sind. Je stärker die Bürger von der Richtigkeit des Systems und seiner Komponenten überzeugt sind, desto größer ist dessen Legitimation und desto weniger wird es durch Demagogie in Frage gestellt werden können.

Hier schließt sich ein argumentativer Kreis: Wenn das System modern ist und den aktuellen Herausforderungen Rechnung trägt, wird es von größerer Akzeptanz getragen sein. Gleichzeitig zeigt sich, wie problematisch es ist, den Bürgern zu signalisieren, wie wichtig es ist, dass es Veränderungen geben muss, auch wenn diese mit Verschlechterungen verbunden sind. Sozialreform ist notwendig, um die innere Akzeptanz des Systems zu erhalten; wer das Festhalten am Erreichten zur politischen Maxime macht, handelt populistisch; wer Veränderungen per se als Sozialabbau madig macht, gefährdet auf längere Sicht die Stabilität des Systems!

Pensionsreform:

Mehr Stabilität notwendig

Auf welchen Gebieten werden in den nächsten Jahren Veränderungen erforderlich sein?

Monetär von größter Bedeutung ist sicherlich das Pensionssystem: Aus meiner Sicht führt auch aus budgetpolitischen Gründen kein Weg daran vorbei, das Pensionssystem entweder regelmäßig zu reformieren oder ein System zu schaffen, das gleichsam selbstregelnd Veränderungen der Realität in leistungswirksame Effekte umsetzt.

Die Schwerpunkte der Pensionsreformkommission werden in den nächsten Jahren zu einer Erneuerung der Invaliditätspension und zur Verbesserung der versicherungsmathematischen Stabilität des Pensionssystems führen müssen; zudem sind weitere Maßnahmen zur Anhebung des tatsächlichen Pensionsantrittsalters zu erwarten: Letztlich geht es aber bei alldem um den Stellenwert, den wir alle - als Individuen und als Gesellschaft - der Arbeit in ihrem Verhältnis zur Pension einräumen.

Gesellschaftspolitisch von größter Bedeutung ist für mich die Frage der Frauenpension. Ich weigere mich zu glauben, dass unsere Gesellschaft nicht vor 2031 fähig sein soll, die Frage des Frauenpensionsalters gerecht zu lösen. Ich bin der Auffassung, dass weder das "Anheben des Frauenpensionsalters" noch das beharrliche Ignorieren des ungleichen Pensionsalters mit dem Hinweis auf die Verfassungslage der Problematik gerecht werden.

Es ist klar, dass man über eine Anhebung des Pensionsalters nicht simpel und isoliert reden kann; ebenso klar ist aber, dass man darüber nur in Verbindung mit anderen Themen reden sollte. Für mich scheint es seit langem unumgänglich zu sein, die Frage des Frauenpensionsalter mit einem Gleichberechtigungspaket, mit Fragen des Unterhaltsrechts und vor allem mit einer eigenständigen Absicherung der Frau im Hinblick auf ihre Altersversorgung zu verknüpfen.

Notwendige Strukturdebatte

Neben der Pensionsproblematik steht auch das Gesundheitswesen vor großen Herausforderungen: Immer älter werdende Menschen, immer leistungsfähigere Medizin und immer gravierendere Finanzierungsprobleme führen zu einer Gemengelage, die grundlegender Neuerungen bedarf. Wenn wir heute immer mehr Krankheiten erleben, die wir früher gar nicht kannten und gegen die früher "kein Kräutlein gewachsen" war, dürfen wir uns nicht wundern, dass wir mit gleichbleibenden Finanzierungsformeln Schiffbruch erleiden.

Ansätze für Lösungen sehe ich zum einen in einer grundlegenden Strukturdebatte hinsichtlich der Leistungserbringung; wir müssen Fehlallokationen in der Leistungserbringung abbauen; Schnittstellen zwischen stationärer und ambulanter Leistung kostengünstig aufbereiten sowie die großen Reibungsverluste bei der Erbringung der Medizin innerhalb der Krankenanstalten reduzieren. Außerdem werden wir nicht um die Frage herumkommen, wie weit Individualverantwortung in einer Zeit notwendig ist, in der die Solidarverantwortung an die Grenzen ihrer Finanzierbarkeit stößt.

Ich trete dafür ein, dass wir all unsere Kräfte darauf konzentrieren sollten, dass die Gesellschaft weiterhin jene Leistungen zur Verfügung stellen soll, welche die Kräfte des Einzelnen finanziell überfordern, und dass daher am unteren Ende der Leistungspalette jene, die finanziell nicht überfordert werden, die Kosten der Leistungen verstärkt aus Eigenem tragen mögen.

An letzter Stelle - die der gesellschaftlichen Wertigkeit des Themas jedoch nicht entspricht - möchte ich auf sonstige Maßnahmen eingehen. Die meisten von ihnen habe ich bereits im Zuge der Arbeit der Kommission "Hebung der Treffsicherheit des Sozialrechts" und in anderen Publikationen vorgeschlagen.

Sie betreffen jeweils nur kleine Personengruppen, sind aber deswegen von nicht geringerer Bedeutung als die "großen Brocken": Aus meiner Sicht sind eine grundlegende Aufarbeitung von Systemproblemen der gesetzlichen Unfallversicherung, wie die Überprüfung des Prinzips der abstrakten Rente durch Grundlagenforschung, die Schaffung eines Sozialhilfegrundsatzgesetzes auf Bundesebene und Maßnahmen im Bereich der Arbeitslosenversicherung, vordringlich zu behandeln. In allen Bereichen hat sich die gesellschaftliche Realität so stark gewandelt, dass es wichtig wäre, neue Wege zu gehen (wie etwa in der Unfallversicherung), effektivere Hilfe zu leisten (wie in der Arbeitslosenversicherung) und die vorhandenen Mittel besser zu verteilen (wie in der Sozialhilfe).

Schließlich sollte auch das Sozialrecht von "Ausländerproblemen" bereinigt werden. Ich halte es nach wie vor für weder mit der europäischen Kultur noch mit der Verfassungslage vereinbar, wenn wir Ausländern Sozialleistungen vorenthalten: Wenn wir beispielsweise Barrieren gegen Ausländer in Sozialwohnungen nicht beseitigen, wenn wir das Pflegegeld nur inländischen Kindern geben, wenn wir nicht dafür Sorge tragen, dass Flüchtlingen während des Asylverfahrens Bundesbetreuung oder Sozialhilfe mit Rechtsanspruch zur Verfügung steht.

Sachlicher Diskurs gefragt

Abschließend will ich darauf hinweisen, dass die obenstehende Nennung von anstehenden Themen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Viele Einzelpersonen oder Gruppen würden andere Punkte nennen und andere Vorschläge machen. Neben den genannten Themen, die uns in den nächsten Monaten und Jahren beschäftigen werden, sollten wir auch diese Anliegen nicht vergessen: Sorgen und Anliegen der Bürger sind ernst zu nehmen und aufzugreifen; gleichzeitig müssen die Bürger aber auch sehen, dass Politik nicht alle Anliegen gleichzeitig aufgreifen und lösen kann.

Das wichtigste Anliegen für mich ist daher, den gesellschaftlichen Diskurs über sozialpolitische Fragen zu versachlichen. Sozialpolitik darf nicht noch mehr als bisher zum Spielball der Tagespolitik und jener verkommen, die uninformiert sind, und mit der Uninformiertheit der Wähler rechnend Halbwahrheiten verbreiten. Soll der Sozialstaat als Errungenschaft erhalten bleiben, darf seine Reform nicht zu einer Debatte verkommen, in der nur Anliegen der jeweils eigenen Klientel für legitim gesehen werden und andere Anliegen diffamiert werden.

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Mazal ist Professor für Arbeits- und Sozialrecht an der Universität Wien.

Der Beitrag ist in der Juni-Ausgabe des "Wiener Journal" erschienen, die sich unter dem Motto "Reformieren statt lamentieren" mit den Problemen des Sozialstaates befasst.