Die herrschende politische Klasse verliert die Fähigkeit, systematisch zu denken. Auch die Kunst der Deduktion, des disziplierten Ableitens von Schlüssen oder Gesetzen aus übergeordneten Grundsätzen, verkümmert. Durch diesen Mangel an Intellektualität kommt es zur Staatslenkung per Zufallsgenerator. Spontaner Aktionismus verdrängt langfristige Konzepte. Beliebige Tagesthemen und Lösungseinfälle werden zu einem legistischen Flickwerk verwoben.
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Die neue Kinderbeihilfe etwa geriet zu einer Mischung aus Intelligenztest und Rechenaufgabe, weil der ursprüngliche Gedanke, dem Wohle der Kinder zu dienen, durch die familienpolitische Marotte überlagert ist, möglichst viele Väter, auch wenn sie ungeschickt oder gewalttätig sein sollten, durch Geldprämien in die Rolle von Säuglingsschwestern zu drängen. Wobei, im Gegensatz zur üblichen nivellierenden Sozialheuchelei, jene, die mehr Geld haben, diesmal auch mehr Beihilfe bekommen.
Regierungsmitglieder und Abgeordnete, die jetzt aktionistisch Sparideen präsentieren, haben kurz vor der letzten Nationalratswahl in einer Nacht- und Nebelaktion die Pensionen außerordentlich erhöht, die Hacklerregelung verlängert, einen 13. Familienbeihilfen-Monat erfunden und die Studiengebühr abgeschafft. Jetzt geht die Lizitation wieder los.
Obwohl die Sozialversicherung grundsätzlich beitragsfinanziert sein sollte, werden wöchentlich Probebohrungen nach neuen Finanzierungsquellen angekündigt. Diese neuen Geldflüsse müssten zwar auch aus der vorhandenen Wertschöpfung der Volkswirtschaft gespeist werden, würden aber das System unübersichtlicher machen und das Herrschaftswissen der Sozialfunktionäre stärken.
Straßen- und Tunnelbauten zur Arbeitsplatzbeschaffung sind ohne übergeordnetes Generalverkehrskonzept leichtfertige Geldverschwendung. Forschungsförderung, die langfristig konzipiert und finanziert sein muss, mit aktuellen Jobnöten und Konjunktureinbrüchen zu verknüpfen, ist vorwissenschaftlicher Unfug.
Spitzenpolitiker verplempern ihre Zeit mit Ferienterminen und Prüfungsordnungen, statt um Bildungsziele oder gar um ein Bildungsideal zu ringen. Unzählige Vorschläge zur Schulreform schweben so richtungslos im Raum, weil die Politik zu schwach ist, Grundsätze zu erarbeiten, die, wenn sie vom Parlament beschlossen wurden, maßgebende Richtschnur für gesetzliche Einzelheiten sein könnten.
Der Ministerrat kann keine Versammlung von Philosophen und anderen Wissenschaftern sein. Aber ein Managementseminar, in dem zielgerichtetes Denken und Handeln gelehrt wird, könnte nicht schaden. Andernfalls produziert das Parlament weiterhin ein stilfreies, eklektizistisches Sammelsurium beliebiger Einzelstücke, fast wie im Arbeitszimmer der Unterrichtsministerin.
Jens Tschebull war Chefredakteur von "trend" und "profil", "Club 2"-Moderator und Herausgeber des "Wirtschaftsblattes".