Merkel: "Mutige Politik" nötig. | Konsumanreize auf Obamas Spuren. | Die Euphorie hält noch an: "Alle zwanzig Kernforderungen der FDP" habe man im Koalitionsvertrag unterbringen können, sagte Parteichef Guido Westerwelle bei dem Sonderparteitag am Sonntag, bei dem die Delegierten bei fünf Stimmenthaltungen die Vereinbarung von CDU, CSU und FDP absegneten.
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Tatsächlich können sich die deutschen Liberalen in vielem wiederfinden, was in dem 130 Seiten starken Papier geschrieben steht. Dem Tempo der Kompromissfindung in dem einen Monat nach der Wahl ist allerdings geschuldet, dass manche Formulierungen im Vagen verharren. Das lässt die Erfolgsmeldung Westerwelles etwas verfrüht erscheinen.
Gerade in den ganz großen Themen wie der Gesundheitsreform zeigt sich, das bestenfalls Leitlinien in dem Vertrag stehen. Die FDP hat auf Abschaffung des sogenannten Gesundheitsfonds gedrängt, aus dem die Krankenkassen finanziert werden. Das ist zunächst bis 2011 aufgeschoben, dann ist eine Umstrukturierung geplant, die vor allem zu Lasten der Arbeitnehmer gehen dürfte. Wie diese im Detail ausschauen wird, soll allerdings erst eine eigene Kommission erarbeiten. Und CSU-Chef Horst Seehofer, der sich als soziales Gewissen der Koalition inszeniert, hat schon angedeutet, dass in diesem Gremium die Übereinkunft nicht so einfach zu finden sein wird.
Zum zweiten ist da das Thema Steuern, das den Abschluss der Koalitionsverhandlungen bis Samstag 2 Uhr Früh hinauszögerte. Am Vormittag des gleichen Tages verkündeten die drei Parteiführer ihr Credo, das viele Kommentatoren vom "Prinzip Hoffnung" sprechen ließ: Die Steuererleichterungen, die sich ab 2013 auf 24 Milliarden Euro pro Jahr summieren sollen, würden durch den dadurch ausgelösten Aufschwung kompensiert, glauben die Koalitionspartner.
Keynes kehrt zurück
Angela Merkel bezeichnet diese Lösung als "mutig", also als risikoreich. Ihr ist also offenbar nicht ganz wohl bei diesem "Wachstum auf Pump" - schon im vergangenen Jahr rang sie sich nur zögernd zu Konjunkturhilfspaketen durch. Diese sind mittlerweile aber internationaler Trend, und allen voran setzt US-Präsident Barack Obama darauf, die Bürger im eigenen Land zum Konsumieren zu animieren. Jetzt hat Merkel einen Anhänger eines solchen Kurses sogar zum Finanzminister gemacht. Wolfgang Schäuble hat schon im November 2008 seine Parteigenossen gemahnt, dass "neben der klassischen Angebotsorientierung auch eine starke Nachfragepolitik" notwendig sei, und führte dabei sogar den Namen des britischen Ökonomen John Maynard Keynes im Mund, der in der Blütezeit des Neoliberalismus gern verteufelt wurde.
Dass der erhoffte Aufschwung allerdings alle Einnahmenausfälle wettmachen könne, will freilich auch Keynesianer Schäuble nicht so recht glauben. An einen ausgeglichenen Haushalt bis zum Ende der Legislaturperiode 2013 sei nicht zu denken, sagte er der "Welt am Sonntag". Es sei schon ehrgeizig, an dem Ziel der Schuldenbremse festzuhalten. Nachdem dieses noch unter der großen Koalition in den Verfassungsrang gehoben wurde, steht nun im Grundgesetz, dass der Bund ab 2016 zu einem ausgeglichenen Budget verpflichtet ist, ab 2011 sollen Schritte in diese Richtung gesetzt werden.
Für Schäuble ist nicht einmal die Einführung des von der FDP durchgesetzten Stufensteuertarifs ab 2011 fix. Zwar habe die Koalition den festen Willen zu Steuersenkungen, sagte er am Sonntagabend im Fernsehen. Die Ehrlichkeit gebiete es aber zu sagen, dass die Wirtschaftsentwicklung nicht vorhersehbar sei: "Wir fahren ziemlich auf Sicht", meinte er.
Sparen - aber wo?
Vorsichtshalber hat man in den Koalitionsvertrag auf Seite 12 einen kleinen, aber bedeutenden Satz eingefügt: "Alle Maßnahmen des Koalitionsvertrages stehen unter Finanzierungsvorbehalt." Die Einlösung der Versprechen wird schwierig, dreht man doch auch an anderer Stelle am Geldhahn: Bei dem sogenannten "Schutzschirm für Arbeitnehmer" sollen die Löcher in den maroden Sozialkassen durch Darlehen aus Steuermitteln gestopft werden, eine Art Nebenhaushalt. Schäuble stellt als Maßnahmen zur Budgetkonsolidierung nur Einsparungen in Aussicht, ohne zu sagen, in welchen Bereichen diese möglich wären.
Dass er bei Sparmöglichkeiten so unkonkret bleibt, begründet Schäuble mit dem nicht vorauszusehenden Verlauf der Wirtschaftskrise. Aber dahinter steht wohl auch der Versuch, jeden Anschein von sozialer Ungerechtigkeit zu vermeiden. Immer wieder hat Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages, der das Wort Zusammenhalt schon im Titel trägt, die Wichtigkeit des sozialen Ausgleichs betont.
Auch Westerwelle hat sich bei dem Sonderparteitag bemüht, sich vom neoliberalen Image der Vergangenheit zu distanzieren.
"Keine kalte Politik"
Als Beispiele für seine sozialen Anliegen führte er die Erhöhung des Kindergelds an und die Verdreifachung des Schonvermögensfreibetrags beim Arbeitslosengeld (von dem allerdings nur wenige Hartz IV-Empfänger betroffen sind). "Wer das als kalte Politik bezeichnet, dem ist in seiner Hirnverbranntheit nicht mehr zu helfen", meinte der FDP-Chef, der seine Partei stärker als bisher in der Mitte platzieren will: "Wir sind eine Partei für das ganze Volk, wir fühlen uns dem ganzen Volk verpflichtet", verkündete er.
Die Opposition von SPD, Linkspartei und Grünen will das allerdings nicht glauben. Aber sie tut sich schwer damit, dies mit konkreten Beispielen zu belegen. Die Aufstockung des Schonvermögens wollte auch die SPD erreichen, Verbesserungen für Familien ab 1. Jänner hat sie noch gemeinsam mit der Union beschlossen. Viele Beobachter sind denn auch der Meinung, dass ein ähnliches Koalitionsabkommen auch mit den Sozialdemokraten möglich gewesen wäre.
Vermutlich bleiben den Oppositionsparteien auch in nächster Zeit die klaren Angriffspunkte versagt. Vieles, was die schwarz-gelbe Koalition versprochen hat, harrt noch der detaillierten Ausformung, vieles wird hinausgeschoben. Zumindest vor Mai 2010 wird es auch kaum konkreter werden. Dann sind Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland. Wenn dort die schwarz-gelbe Regierung wackelt, wackelt auch die schwarz-gelbe Mehrheit im Bundesrat, der zweiten Parlamentskammer.