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Regieren nach Zahlen: Ab wann ist zu viel zu viel?

Von Adrian Lobe

Gastkommentare
Adrian Lobe hat Politik- und Rechtswissenschaften in Tübingen, Paris und Heidelberg studiert und ist freier Journalist in Stuttgart.

Die Diskussion um Grenzwerte zeigt die Technisierung der Politik.


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Den Bürgern von Stuttgart stinkt es gewaltig. Schon zum wiederholten Male wurden in diesem Jahr die Schadstoff-Grenzwerte überschritten. Am Neckartor, der "schmutzigsten Kreuzung Deutschlands", wie sie in der Hauptstadtpresse genannt wird, riecht man das zwar nicht unbedingt, die Anrainer aber merken es, wenn sie Rußpartikel von ihren Fenstersimsen fegen. Doch während die Politik aufgeregt über Fahrverbote diskutiert, bleibt außer Acht, was eigentlich die technische Grundlage dieser Debatte ist: Grenzwerte.

Für Feinstaub der Partikelgröße PM10 (Partikel mit einem Durchmesser von 10 Mikrometer oder kleiner) gibt es gleich zwei Grenzwerte: einen für das Jahresmittel und einen für das Tagesmittel. Das Jahresmittel darf 40 Mikrogramm pro Kubikmeter nicht überschreiten, beim Tagesmittel liegt der Maximalwert bei 50 Mikrogramm. Davon sind wiederum Ausnahmen an 35 Tagen im Jahr zulässig. Klingt kompliziert? Ist es auch. Die EU hat in der Richtlinie "über Luftqualität und saubere Luft für Europa" eine Reihe von Messkriterien definiert. Darin heißt es: "Im Allgemeinen muss sich der Messeinlass in einer Höhe zwischen 1,5 m (Atemzone) und 4 m über dem Boden befinden."

Das klingt nach Brüsseler Behördensprech und kleinem Karo.

Doch ob eine Messstation eineinhalb oder vier Meter über dem Boden installiert wird, macht einen himmelweiten Unterschied. Schadstoffe haben die Eigenschaft, dass sie mit zunehmendem Abstand zur Quelle diffundieren. Das heißt, je weiter die Messgeräte von den Schadstoffquellen entfernt sind, desto niedriger sind auch die Werte. Man misst immer das, was man auch messen will. Zwar werden in den meisten EU-Mitgliedstaaten flächendeckend Messungen durchgeführt, doch sind die Messtechniken nicht hinreichend standardisiert, als dass die gesammelten Daten repräsentativ und EU-weit vergleichbar wären. Das aber soll die EU-Vorschrift ja gerade erreichen. Dass Städte in Südeuropa, wo im Sommer die Smogglocke schon mit bloßem Auge zu erkennen ist, offenbar keine Umweltbelastung aufweisen, braucht da nicht zu verwundern. Wo nicht oder nur ungenau gemessen wird, gibt es auch keine Überschreitungen der Grenzwerte.

Man kann noch viel grundsätzlicher fragen: Warum sind Feinstaubwerte erst ab 40 Mikrogramm pro Kubikmeter problematisch? Warum nicht schon ab 30 Mikrogramm? Wer definiert diese Grenzwerte? Und ab wie vielen Tagen der Überschreitung wird aus einer Umweltbelastung ein politisches Problem? Etwas zugespitzt: Ab wann ist zu viel zu viel?

Die Debatte um Grenzwerte und Obergrenzen (in der Asylpolitik) ist Ausdruck einer zunehmenden Technisierung des Politischen. Die Politik verschanzt sich hinter Messgrößen, als wäre ein politisches Problem erst dann zu bearbeiten, wenn die von Wissenschaftern oder Lobbyvereinen definierten Werte über einen gewissen Zeitraum überschritten werden.

Die Diskussion ist entlarvend. Würden die Grenzwerte eingehalten, sähe man gar keinen Handlungsbedarf. Eine Politik, die mathematische vor politische Werte stellt, verliert irgendwann den Blick für gesellschaftliche Realitäten.