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Regierung hängt am seidenen Faden

Von WZ-Korrespondent Ferry Batzoglou

Politik

Griechenland: Trotz fließender Milliardenkredite muss Tsipras weitere rigide Spar- und Reformpakete beschließen.


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Athen. Kostas, Mitte fünfzig, Frühpensionist, weinroter Pullover, braune Cordhose - der Café-Besucher auf der sonnenüberfluteten Terrasse des "Stay" im gehobenen nördlichen Athener Vorort Vrilissia hegt an diesem spätsommerlichen Samstagmorgen im November nicht den geringsten Zweifel: "Zwei Abgeordnete hat er schon verloren, das ist erst der Anfang! Eine andere Lösung als eine Allparteienregierung kann es nicht geben - und zwar schon bald! Sonst geht Griechenland unter!" Kostas schlürft Mokka, die anderen am Tisch nicken.

Mit "er" meint Kostas ausgerechnet Alexis Tsipras, Griechenlands im September wiedergewählten Premier. Hintergrund: Tsipras’ erneut im Eiltempo gebildete Regierung aus dem "Bündnis der Radikalen Linken" ("Syriza") und den "Unabhängigen Griechen" ("Anel") verfügte ohnehin nur über eine hauchdünne Mehrheit von 155 Abgeordneten im 300 Mandate umfassenden Parlament. Bis Donnerstag.

Rauswurf für Abweichler

An jenem Tag stand die Verabschiedung eines neuen Sparpakets im Athener Parlament an. Tsipras und Co. überstanden zwar die Kraftprobe gegen die Stimmen der Athener Opposition. Aber: Die Abgeordneten Stathis Panagoulis (Syriza) und Nikos Nikolopoulos (Anel) verweigerten ihm die Gefolgschaft. Die Strafe folgte prompt: Die beiden Abweichler wurden von Syriza-Chef Tsipras und Anel-Chef Panos Kammenos aus ihren Parlamentsfraktionen ausgeschlossen. Für Tsipras war es das erste Mal, dass er seine Abgeordneten zu disziplinieren versucht. Das hat gute Gründe: Bis Weihnachten muss der 41-jährige Regierungschef, der Mitte Juli eine radikale Kehrtwende vom zuvor eingefleischten Spargegner zum Reformbefürworter vollzogen hatte, weitere rigide Spar- und Reformpakete verabschieden. Darunter sind besonders schwere Brocken wie eine Pensionsreform mit neuerlich massiven Einschnitten für die 2,6 Millionen Pensionisten im Elf-Millionen-Einwohner-Land sowie massive Steuererhöhungen für die politisch einflussreichen Bauern.

Dabei hatte Tsipras zuletzt versprochen, die mit der ungeliebten Gläubiger-Quadriga aus EU, EZB, IWF und Europäischem Stabilitätsmechanismus (ESM) im Gegenzug für frische Milliardenkredite vereinbarten Spar- und Reformauflagen zumindest abzumildern. Davon ist bis dato jedoch nichts eingetreten, im Gegenteil: Tsipras’ Wahlversprechen erweisen sich als Luftschlösser. So wächst in der Syriza der über die Fortsetzung des rigorosen Sparkurses. Schwer wiegt dabei das plötzliche Ausscheiden des Ex-Regierungssprechers und Abgeordneten Gavril Sakellaridis, einem alten Weggefährten von Tsipras, aus dem Athener Parlament. Er könne die Regierungspolitik "nicht mehr mittragen", begründete der 35-Jährige seinen Rücktritt. Seinen Platz im Parlament nahm umgehend ein loyaler Parteifreund von Tsipras ein. Dennoch: Im Gegensatz zu dem Syriza-Mann Panagoulis, der über keinerlei Hausmacht in der Regierungspartei verfügt, zählt Sakellaridis zu der Syriza-Gruppierung der "53". Sie verfolgt seit geraumer Zeit mit Argwohn Tsipras’ spektakuläre Kehrtwende.

Den "53" werden etwa ein Dutzend der 144 Syriza-Abgeordneten zugerechnet. Sakellaridis’ demonstrativer Rückzug aus dem Parlament ist auch ein unmissverständliches Signal der "53" an Tsipras. Nach dem Motto: "Alexis, kehre endlich zu deiner Ablehnung der Sparpolitik zurück!"

Ob die "53" letztlich wie jene rund 30 Syriza-Abweichler, die sich schon im Sommer zur "Volkseinheit" formierten, bald das in Turbulenzen geratene Syriza-Schiff verlassen und damit womöglich den Weg für neuerliche Neuwahlen ebnen, bleibt abzuwarten. Fest steht: Die beginnenden Auflösungserscheinungen im Regierungslager verleihen der bislang eher müden Opposition Auftrieb. Die ehemals omnipotenten Pasok-Sozialisten scheinen einer Teilnahme an der Regierung grundsätzlich nicht abgeneigt. Der Führer der neuen Parlamentspartei "Union der Zentristen", Vassilis Leventis, rief sogar unverhohlen zur Bildung einer Allparteienregierung der sechs pro-europäischen Kräfte auf. Nur die Kommunisten und die rechtsextreme Goldene Morgenröte sollen draußen bleiben. Eine der pro-europäischen Kräfte, die sozialliberale "Fluss"-Partei ("To Potami"), erklärte prompt, sie wolle in der Opposition bleiben.

"Wir beißen Zähne zusammen"

Bliebe die führende Athener Oppositionspartei, die konservative "Nea Dimokratia". Doch sie ist nach ihrer herben Wahlschlappe erst einmal mit sich selbst beschäftigt. Am Sonntag sollte ein neuer ND-Chef gewählt werden. Doch die Wahl musste kurz nach Öffnung der Wahllokale abgeblasen werden. Das Online-System für die Auswertung der Stimmen versagte - unstrittig ein Fiasko.

Tsipras’ Alter Ego, Sonderminister Nikos Pappas, lehnt indes die Bildung einer neuen Regierung mit einer breiteren Mehrheit kategorisch ab. "Die Mehrheit ist sauber und hat einen starken Stamm", sprüht er vor Zuversicht. Und Regierungschef Tsipras? Der angeschlagene Senkrechtstarker gibt sich kämpferisch: "Die Regierung schreitet entschlossen voran. Wir beißen die Zähne zusammen, für das Land und das Volk." Derartige Statements halten immer mehr Griechen nur noch für pathetische Überhöhungen oder für leere Worte. Sie kehren Tsipras in Scharen den Rücken. Einer jüngsten Umfrage zufolge bewerten ihn nur noch 40 Prozent positiv, ganze elf Prozentpunkte weniger als noch im Oktober.

Die massiven Sympathieverluste für Tsipras haben gute Gründe: Laut der November-Umfrage sehen nur noch neun Prozent der Griechen ihr Land "auf dem richtigen Weg", 85 Prozent sagen das Gegenteil - stattliche neun Prozent mehr als im Oktober. Trotz unentwegt fließender Milliarden-Kredite nach Athen hängt die Regierung Tsipras am seidenen Faden. Griechenland bleibt im Krisenmodus.