Bonn · "Wir werden nicht alles anders machen, aber vieles besser." Mit diesem selbstbewußten Satz ist der Sozialdemokrat Gerhard Schröder im vergangenen Jahr in den Wahlkampf gezogen. Und die | Deutschen entschieden sich für den Wechsel. Am 27. September wurde die Regierung von Helmut Kohl abgewählt, einen Monat später wurde Schröder als Chef einer Regierung aus Sozialdemokraten (SPD) und | Grünen vereidigt. Am kommenden Mittwoch ist sein Kabinett 100 Tage im Amt.
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In seiner Regierungserklärung versprach Schröder viel: die Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit, ein energisches Anpacken der jahrelang verschleppten Steuerreform, den Start zum Ausstieg aus der
umstrittenen Atomenergie · eine Grundforderung vor allem der Grünen.
Der Regierungswechsel sei auch ein Generationswechsel, sagte er. Seine Altersgruppe sei "aufgerufen, einen neuen politischen Pakt zu schließen, gründlich aufzuräumen mit Stagnation und
Sprachlosigkeit, in die die vorige Regierung unser Land gebracht hat."
Doch die Praxis erweist sich als mühsam. Nach 16 Jahren Opposition mußte die SPD offensichtlich erst wieder Tritt fassen. Bei konkreten Projekten zeigte sie sich erstaunlich unvorbereitet. "Es fehlte
nicht an Zielen, wohl aber an genauen Vorstellungen, wie man sie erreichen wolle", bilanzierte die liberale Wochenzeitung "Die Zeit".
Gewerkschaften verärgert
Schon bei ihren ersten Schritten geriet die neue Regierung ins Stolpern. Die Einschränkung von Billigarbeitsplätzen durch eine Abgabenerhöhung scheiterte. Die Gewerkschaften reagierten verärgert
auf diesen Fehlstart: Der Kanzler habe der Wirtschaft nachgegeben, die sich vor Steuern und Abgaben drücken wolle. Auch die angekündigte Öko-Steuerreform brachte bisher nicht viel: Benzin soll
lediglich 6 Pfennig teurer werden. Und von der geplanten Stromsteuer bleiben energieintensive Unternehmen verschont. Die Opposition reagierte mit Hohn und Spott. Die Grünen sprachen gequält von einem
"Einstieg in die Öko-Steuer".
Guter Start für Joschka Fischer
Im Ausland hatte die Regierung zunächst einen guten Start. Außenminister Joschka Fischer machte auf dem internationalen Parkett eine gute Figur. Doch nach der Übernahme der EU-Präsidentschaft
durch Deutschland machte Schröder klar, daß für ihn die Sanierung der Finanzen Priorität vor der Erweiterung der Union habe. Die Beitrittskandidaten fühlten sich düpiert, die EU-Partner waren
verärgert wegen der scharfen Forderung, Bonn wolle nicht länger Zahlmeister der EU sein.
Auch im Inland summieren sich inzwischen die Probleme. Jüngstes Beispiel ist der Zickzackkurs beim geplanten Ausstieg aus der Atomenergie. Schröder ließ zu, daß sein grüner Umweltminister Jürgen
Trittin einen Gesetzesentwurf zum kurzfristigen Stopp der atomaren Wiederaufbereitung vorlegte. Nach Protesten der Energiekonzerne zog Schröder den Plan zurück. Die Industrie blieb vorerst Sieger.
Wähler bisher nicht verärgert
Bisher hat der mühsame Start der Regierung Schröder die Wähler nicht verärgert. Nach der jüngsten Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen liegt die SPD bei 44 Prozent Unterstützung. Das sind fast 3
Prozentpunkte mehr als bei der Wahl. Aber noch sind die Hauptprobleme unerledigt · allem voran der Abbau der Arbeitslosigkeit. Hohe Schulden und fehlende Einnahmen verhindern einen großen Sprung nach
vorn.