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Regierung vor Zerreißprobe

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Europaarchiv

Liberaldemokraten fürchten um ihre Programme. | Wahlen zum Gemeinderat als Stimmungstest. | London. So war das wirklich nicht gedacht. Meinungsverschiedenheiten sollten das gute Verhältnis nicht beeinträchtigen. Als britische Konservative und Liberaldemokraten vor einem Jahr in London ihren Regierungspakt besiegelten, hatten sie gelobt, sich allen Streits zu enthalten - und dem Land eine "neue Politik" zu bescheren.


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Damals schienen sich die Parteivorsitzenden David Cameron und Nick Clegg so gut zu ergänzen, dass Kommentatoren verblüfft von einem "Love-In" sprachen. Im Rosengarten von Downing Street gelobten sie einander Treue auf fünf Jahre. Das Mammut-Projekt der Sanierung der Finanzen wollten sie pragmatisch und mit vereinten Kräften angehen. Alle Minister, hieß es, würden Hand in Hand arbeiten. Über inhaltliche Differenzen sollte gegenseitiger Respekt hinweg helfen.

Ein paar Monate lang ging das auch gut. Der konservative Premier und sein liberaler Stellvertreter demonstrierten außergewöhnliche Talente politischer Konfliktvermeidung und zivilisierten Umgangs. Nun aber scheinen die Regierung alle guten Geister verlassen zu haben. Plötzlich gleicht das Kabinett keinem Club wohlerzogener Gentlemen mehr - sondern einem Boxring nach der dritten Runde.

Mit wütenden Hieben dreschen Minister der Koalitionsregierung aufeinander ein. Die Tories nennen liberale Kollegen Verfechter einer "närrischen, unbritischen und undemokratischen" Politik. Die Liberalen werfen den Konservativen vor, mit "stinkendem Dreck" zu werfen und "Goebbels-artige" Unwahrheiten zu verbreiten. Selbst Clegg, der Diplomat und Koalitionsstifter, mag sich nicht länger mit Artigkeiten aufhalten. Er macht den Koalitionspartner für "Lügen, Fehlinformationen und Täuschung" verantwortlich. "Einer rechtslastigen Clique" sei jedes Mittel recht, schimpft Clegg, um dafür zu sorgen, "dass alles bleibt, wie es ist".

Radikale Reformen

Gewachsen sind die Spannungen eine ganze Weile. Im Lager der Tory-Fundamentalisten wächst die Frustration darüber, dass Cameron keine härtere Linie fährt, sondern dem Juniorpartner immer wieder entgegenkommt. Bei den Liberalen wiederum befürchtet man, dass die konservative Führung eine zunehmend rechtslastige Politik betreibt.

Tatsächlich sind etwa im Bildungs- und Gesundheitsbereich radikale Reformen eingeleitet worden, die wenig mit den Vorstellungen liberaldemokratischer Programme gemein haben. Die von den Liberalen geforderte Kontrolle der Banken und Boni ist nicht zustande gekommen. Im Medienbereich will man Rupert Murdoch eine markt- und meinungsbeherrschende Stellung einräumen - während der öffentlich-rechtlichen BBC kräftig die Flügel gestutzt werden.

Für Oppositionsführer Ed Miliband von der Labour Party ist die Sache durchaus simpel: "Ich weiß, dass einige Leute an der Spitze der Liberaldemokraten behaupten, sie hätten durch ihre Präsenz in dieser konservativ geführten Regierung für Kursänderungen gesorgt. Aber die Wahrheit ist, dass die Liberaldemokraten weder auf dem Beifahrersitz noch auf dem Rücksitz der Regierungslimousine sitzen. Sie sind im Kofferraum eines Wagens eingeschlossen, der stracks in die falsche Richtung fährt."

Doch auch bei den Liberaldemokraten reicht der Argwohn mittlerweile bis weit in die Partei hinein. Die von den Tories erzwungene Verdreifachung der Studiengebühren zum Beispiel, auf 9000 Pfund (rund 10.000 Euro) im Jahr, brachte die Liberaldemokraten in eine schwierige Lage. Sie hatten vor der Wahl feierlich versprochen, eine Erhöhung um jeden Preis zu verhindern und Studiengebühren binnen weniger Jahre wieder abzuschaffen.

Wegen seines "gebrochenen Versprechens" wurde die Maßnahme in der Folge von der Bevölkerung vor allem Clegg zur Last gelegt - und nicht Cameron oder seinem Schatzkanzler George Osborne. Clegg, der Held des letzten Wahlkampfs, der angetreten war, das politische System zu erneuern, ist im vergangenen Winter zum "Verräter an den Werten" der eigenen Partei geworden. Vor zwölf Monaten noch war er ein Stimmenmagnet für die Liberalen. Heute mögen seine eigenen Parteigänger sein Bild nicht mehr auf ihre Wahlbroschüren und Webseiten setzen.

Bei den Gemeinderatswahlen, die am morgigen Donnerstag in weiten Teilen der Insel stattfinden, muss Cleggs Partei Schlimmes befürchten. Während die Konservativen mit sporadischen Verlusten rechnen, drohen den Liberaldemokraten katastrophale Einbrüche. Jeder dritte Wähler Cleggs bereut schon seine damalige Entscheidung. In Umfragen ist der Wähleranteil der Liberalen von 23 auf 10 Prozent gesunken.

Votum zu Wahlrecht

Noch mehr als diese Verluste ängstigt den Juniorpartner der Koalition aber der Ausgang der Volksabstimmung, die am selben Tag wie die Kommunalwahlen abgehalten wird. Bei der nämlich geht es darum, ob das britische Wahlrecht geändert werden soll. Das Referendum hatten Cleggs Leute vor einem Jahr zur Voraussetzung für eine Koalitionsvereinbarung gemacht. Sie wollen das Mehrheitswahlrecht durch ein System der "Alternativen Stimme" ersetzen, das den Wählerwillen etwas angemessener als bisher in Parlamentsmandate umsetzt. Vereinbart wurde, dass beide Parteien gegensätzliche Positionen in diesem Referendum einnehmen dürfen. Und dass Premier und Vize-Premier sich zurückhalten würden für die Dauer der Kampagne.

Letzteres erwies sich als frommer Wunsch. Von seinem rechten Flügel unter Druck gesetzt und vorübergehend besorgt über einen möglichen Erfolg der Gegenseite, schaltete sich Cameron in die Kampagne ein. Der Regierungschef gab außerdem sein stilles Einverständnis zu einem Flugblatt der Nein-Kampagne, das mit einem Bild seines liberalen Vize operierte und verkündete, Wahlrechtsreform und Koalitionen hätten genau das zum Ergebnis, wofür Nick Clegg stehe: "gebrochene Versprechen".

Die Liberalen, einer solchen Attacke ausgesetzt, schäumten. "So eine Unverschämtheit" müsse man sich nicht bieten lassen, grollten etwa Energieminister Chris Huhne und Industrieminister Vince Cable. Die üblen Tricks der Tories würden das Zusammen-Regieren in Zukunft sehr viel schwieriger machen, drohte Huhne. Lord Oakshott, ein Wirtschaftsexperte der Liberalen im Oberhaus, warf Cameron vor, ein "lächelnder Mörder" zu sein, "der unserem Nick den Dolch in den Rücken stößt".

Rebellischer Aufruf

Cable forderte rundheraus gemeinsame Sache der "progressiven Parteien" im Land, um "die Kräfte der Reaktion" von weiteren Triumphen abzuhalten. Mit dieser rebellischen Aufforderung eines Ministers, der immerhin noch mit seinen Tory-Kollegen zusammen am Kabinettstisch sitzt, erreichte die Koalitionskrise einen ersten Höhepunkt. Doch wissen auch die Liberalen, dass ihnen wenig Möglichkeiten bleiben. So einfach können sie Cameron nicht mehr zu Fall bringen. Sollten sie sich aus der Regierung zurückziehen, würde der Tory-Chef zweifellos Neuwahlen ausrufen - und hätte passable Chancen, sie zu gewinnen.