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Regionen mehr Gehör schenken

Von Michel Barnier*

Europaarchiv

In den letzten 20 Jahren haben in mehreren EU-Mitgliedstaaten die regionalen Gebietskörperschaften an Gewicht gewonnen. Gleichzeitig übt die Politik der Europäischen Union einen immer stärkeren Einfluss auf lokale Gegebenheiten aus. So sind etwa die Finanzmittel, mit denen die EU die am wenigsten wohlhabenden bzw. die im Strukturwandel befindlichen | Staaten und Regionen unterstützt, seit 1986 stetig gestiegen. Im Siebenjahreszeitraum 2000 bis 2006 stellt die Union insgesamt 213 Mrd. Euro für die Regionen zur Verfügung. Auch Österreich profitiert in hohem Maße von der gemeinschaftlichen Strukturförderung - es erhält in diesem Zeitraum knapp 1,5 Mrd Euro für die wirtschaftliche Entwicklung seiner | Regionen.


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Heute ist zu beobachten, dass die EU-Staaten - im Zuge der Internationalisierung der wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen - immer enger zusammenarbeiten und gemeinsame Politiken einführen, die auch auf die Bedürfnisse der Regionen Bedacht nehmen. Gleichzeitig gelingt es regionalen Akteuren zunehmend, sich zu organisieren, aktiv zu werden und ihre Kompetenzen zu festigen.

Die Regionen und Europa

Die Regionalisierung der Verwaltung folgt allerdings in Europa keinem einheitlichen Schema oder Leitgedanken. So verfügen etwa die regionalen Gebietskörperschaften in Europa nicht alle über dasselbe Maß an Autonomie. Sie sind nicht mit den gleichen Befugnissen ausgestattet und weisen eine unterschiedliche Finanzkraft auf. Die Verschiedenheit der nationalen Systeme, die durch den Grundsatz der institutionellen Unabhängigkeit geschützt ist, muss daher respektiert werden. Das bedeutet, dass sich die europäischen Institutionen den diesbezüglichen Entscheidungen jedes Mitgliedstaats gegenüber neutral verhalten müssen. Dieser Grundsatz scheint allgemein sogar von denjenigen geteilt zu werden, die eine direkte Anerkennung der regionalen Ebene durch das institutionelle System Europas wünschen und in diesem Sinne besondere Rechte für die Regionen fordern, wie beispielsweise bestimmte legislative und exekutive Befugnisse. Ist es aber überhaupt denkbar, dass innerhalb des europäischen institutionellen Rahmens bestimmte Rechte lediglich einigen Regionen zuerkannt würden, ohne dass sich dies auf die Kompetenzverteilung in den Mitgliedstaaten auswirkt?

EU mit Regionen aufbauen

Meine Antwort auf diese Frage ist, dass ich das etwas übereilt als Europa der Regionen bezeichnete Gebilde nicht befürworte, wenn das Europa der Staaten dadurch abgelöst werden sollte. Dies rührt daher, dass ich als für die europäische Regionalpolitik zuständiger Kommissar weiß, wie sehr das europäische System auf die nationale Ebene angewiesen ist, um zwischen den teilweise gegensätzlichen Interessen der Regionen zu vermitteln.

Andererseits glaube ich, dass die europäischen Institutionen bei der Durchführung, aber auch bei der Konzeption der gemeinsamen Politiken den Regionen mehr Gehör schenken müssen. Mit dem Vertrag von Maastricht wurde der Ausschuss der Regionen ins Leben gerufen, der seit 1994 Beratungsfunktion innehat. Ich hielte ich es für wünschenswert, dass der Ausschuss der Regionen aktiv an den Arbeiten des Konvents über die bevorstehenden Reformen der europäischen Institutionen teilnimmt.

Ergänzend zu den Arbeiten des Ausschusses der Regionen kann nun auch die direkte Mitwirkung der regionalen Ebene verwirklicht werden. Laut Artikel 203 des Vertrags von Rom besteht der Ministerrat aus Vertretern der Mitgliedstaaten auf Ministerebene und lässt somit jedem Staat die Möglichkeit, seine Regelungen zu treffen und im Einklang mit seiner Verfassung die direkte Beteiligung der Regionen zu gewährleisten.

Außerdem werden zahlreiche europäische Beschlüsse auf regionaler Ebene umgesetzt. Zusätzlich zu den Schritten, die die Mitgliedstaaten unternehmen müssen, damit die regionalen Entscheidungsträger sich diese Beschlüsse wirklich zu eigen machen können, will die Kommission die Verfahren für die Anhörung der Vertreter der Regionalverbände und für den Dialog mit ihnen verstärken. Das Weißbuch über Regieren in Europa empfiehlt diesen Dialog als eines der Mittel, um Rechtsvorschriften auszuarbeiten, die den Umsetzungsbedingungen vor Ort angepasst sind. Kompetenzen abgrenzen

Im Mittelpunkt des Treffens von Lüttich steht die Abgrenzung der Kompetenzen der Union und der Mitgliedstaaten. Hier ist Kreativität gefragt, und wir sollten vermeiden, Modelle zu übernehmen, die auf den Verfahrenweisen des einen oder anderen föderal strukturierten Staates beruhen. Die Europäische Union ist kein Staat, und wir müssen die Flexibilität der Verträge bewahren, wenn wir nicht die weitere Entwicklung des europäischen Aufbauwerks behindern wollen. Viele europäische, nationale und regionale Entscheidungsträger haben dies verstanden, und die Nachteile des Ansatzes der Kompetenzliste werden immer klarer erkannt. Auf europäischer Ebene müssen die Rechtsvorschriften den Staaten und sogar den Regionen einen möglichst großen Spielraum bei der Auswahl der Durchführungsinstrumente lassen. Darauf wird auch im Weißbuch über Regieren in Europa verwiesen. Diese Überlegung ist heute wieder brandaktuell, und ich bin überzeugt, dass die Institutionen, die europäische Rechtsvorschriften vorschlagen und erarbeiten, allmählich Techniken und Gewohnheiten entwickeln werden, die es ihnen gestatten, die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zu beachten.

Hierzu gehört auch, dass die Debatten des Ministerrates, wenn dieser zu Rechtsvorschriften Stellung nimmt, öffentlich geführt werden, aber auch, dass Beschlüsse allgemein mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden. Schließlich wurde bei der letzten Konferenz über die Revision der Verträge vorgeschlagen, dass der Ausschuss der Regionen den Gerichtshof anrufen kann. Dieser Vorschlag wurde zwar nicht angenommen, zeigt aber, dass es notwendig ist, über die Beziehungen zwischen den regionalen Stellen, den Staaten und der europäischen Gerichtsbarkeit nachzudenken.

Europa besser organisieren

Worum es mir letztlich vor allem geht, ist, dass die EU nicht geschwächt aus der Debatte über die Kompetenzen und die sachgerechte Ausübung unserer gemeinsamen Kompetenzen hervorgehen wird. Die uns allen bekannte internationale Lage hat uns deutlich vor Augen geführt, dass nur ein besser organisiertes Europa Krisen bewältigen und den Gefahren der Globalisierung begegnen kann, ein Europa mit stabilen Grenzen, das Wanderungsbewegungen kontrolliert, und ein Europa, das eine kohärentere Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik verfolgt.

Einige der wichtigsten Aufgaben in den kommenden Monaten und vermutlich auch Jahren bestehen darin, dass wir uns darum bemühen, die Kompetenzen der Mitgliedstaaten und damit auch ihrer regionalen Gebietskörperschaften in der Europäischen Union besser zu begreifen und zu beachten, dass wir Europa zusammen mit den Regionen aufbauen und dass wir die Umsetzung unserer Politiken dezentralisieren. Ich für meinen Teil werde diese Aufgaben pragmatisch und nicht etwa ideologisch anpacken und dabei stets eine möglichst einfache, effiziente und legitime Funktionsweise unserer Institutionen anstreben.

(*) Michel BARNIER ist Mitglied der Europäischen Kommission und zuständig für Regionalpolitik und die Reform der Institutionen.