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Ungarn schickte tausende Flüchtlinge ohne Absprache nach Heiligenkreuz, die Versorgung funktionierte dennoch einwandfrei.
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Heiligenkreuz. Eine Gruppe syrischer Männer kommt. Zu Fuß. Genau dort, wo rot-weiß-rote Schilder in Heiligenkreuz den Beginn des Staatsgebiets der Republik Österreich markieren, setzt einer von ihnen einen bewusst großen Schritt. Eine kleine Geste nur, ein gespielter Witz, und doch illustriert sie auch die Bedeutsamkeit dieses Schritts. Die Gruppe hat Ungarn hinter sich gelassen, das Lager von Röszke. Oder "Prison", wie eine syrische Mutter sagt, die verzweifelt ihren Mann sucht, ihn schon vor Wochen auf der Flucht verloren hat.
Der große Schritt symbolisiert aber mittlerweile auch etwas anderes. Denn mit Schritten wie diesen, von Tausenden auf ungarischen Boden gesetzt, schufen die Flüchtlinge Tatsachen, die das Dublin-III-Abkommen faktisch außer Kraft setzten. In der Nacht auf Montag schufen dann auch die ungarischen Behörden Tatsachen. Sie befüllten Busse in Röszke mit Flüchtlingen und ließen sie auf der ungarischen Seite des Grenzübergangs Heiligenkreuz aussteigen. War das noch Dublin, an das sich Viktor Orbán auf Punkt und Beistrich halten wollte?
Binnen weniger Stunden saßen im Industriegebiet des südburgenländischen Grenzorts laut Schätzung der Behörden rund 4000 Flüchtlinge, darunter auch viele Familien mit Kindern. Die ersten Meldungen in der Früh deuteten daraufhin, dass Realität werden würde, wovon Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) und sein Außenminister Sebastian Kurz gewarnt hatten: dass die österreichischen Verwaltungsorgane mit dem Ansturm der Flüchtlinge überfordert werden.
Denn auf einmal waren es nicht nur die Bahnhöfe entlang der Weststrecke und Nickelsdorf, wo tausende Schutzsuchende auf die Weiterreise warteten und versorgt werden mussten, auf einmal kamen die Flüchtlinge überall über die grüne Grenze. Und das noch dazu ohne Vorabinformation der ungarischen Behörden.
Wenn die burgenländische Polizei Informationen bekam, dann nur informell, weil sich durch die ansonsten gute Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren Bekanntschaften aufgebaut hatten. "Seit zwei Wochen", sagt Polizeisprecher Gerald Koller, "gibt es keine offizielle Kommunikation mehr." Es ist also nicht nur die schiere Masse der Flüchtlinge, die zu Überforderung beiträgt, sondern auch die politische Eiszeit zwischen Österreich und Ungarn.
Noch in der Nacht auf Montag wurde das Rote Kreuz angefordert und nach Heiligenkreuz beordert, private Helfer kamen ebenfalls und die Polizei stellte 120 Beamte aus dem Burgenland, der Steiermark und Tirol auf. Um die Mittagszeit standen dann auch schon die Busse Schlange, mit denen der Weitertransport organisiert werden sollte. Nur wohin? Wien meldete bereits, keinen Platz mehr zu haben, in Oberwart war die Messehalle belegt, dann sprang aber Graz ein.
Vereinzelt waren zwar Flüchtlinge, fast durchwegs Männer, auf eigene Faust und zu Fuß weiter Richtung Fürstenfeld gewandert, rund 15 Kilometer von Heiligenkreuz entfernt, doch die allermeisten warteten geduldig auf die Busse. Die Situation war überaus ruhig, von einer Überforderung war zu Mittag nichts mehr zu sehen. Während sich die einen anstellten, um in die Busse einzusteigen, schliefen sich andere die Erschöpfung aus ihren Körpern, wieder andere sammelten liegen gebliebene Wasserflaschen und Bananenschalen auf.
Auf der ungarischen Seite des Grenzübergangs waren zwar vor Tagen dutzende Zelte aufgestellt worden, doch weder übernachteten darin Menschen, noch ließ man Menschen darin übernachten. "Man hat den Flüchtlingen nur gesagt, wo Österreich ist", erzählt Koller.
Am Nachmittag leerte sich der Platz im Industriepark und von der anderen Seite kam niemand mehr. Nur noch ein Taxi, aus dem ein Mann mit einer Tasche stieg. Es war der Mann, der vor Wochen auf der Flucht verloren ging, ein Arzt aus Syrien. Erstmals seit zwei Wochen nahm er wieder sein Kind in den Arm, seine Ehefrau. Er will mit ihnen nach Schweden, wohin er allein weitergeflüchtet war. Er dachte, dass er von dort aus seine Frau würde holen können, doch die saß im "Prison" in Röszke fest, wie sie erzählt. Also fuhr der Mann wieder zurück, wollte sie von dort holen, doch das Lager war in der Nacht weitgehend evakuiert worden. In Heiligenkreuz fanden sie schließlich zusammen.
Das heimische Asylsystem werden sie nicht belasten, sie wollen weiter nach Schweden, aber die Weiterfahrt könnte aufgrund der derzeitigen Situation noch dauern. Registriert werden die Flüchtlinge jedenfalls derzeit von Österreich nicht, vorerst geht es ausschließlich um eine "menschenwürdige Unterbringung", wie Koller sagt. In der gegenwärtigen Situation heißt das aber nur: Notschlafplatz, Essen, Kleidung. Nur wer hier Asyl beantragt, erhält auch die volle Grundversorgung inklusive Taschengeld von 40 Euro pro Monat.
Fast alle wollen weiter, nicht aber ein Zimmermann aus Syrien, aus der Hafenstadt Tartus. Er will in Österreich Asyl, genau genommen in Villach. Warum ausgerechnet Villach? Er hatte gehört, dass es dort einen Fluss gibt und einen See. "Ich war auch einmal Seemann in Syrien", erzählt er.
Er brauche das Wasser.
"Kann man dort schwimmen?"
"Kann man dort fischen?"
"Kann man als Zimmermann arbeiten?"