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Reiche sind reicher, Arme zahlreicher

Von Heiner Boberski

Politik

Über die Definitionen von Armut mag man streiten, aber für Martin Schenk, den Sozialexperten von Armutskonferenz und Diakonie Österreich, steht fest: Sie nimmt zu, sie wird des Öfteren nur von Verwandten abgewendet und sie kostet Lebenszeit.


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Was ist Armut? Für Martin Schenk kann man Armut nicht nur über ein geringes Einkommen definieren. In Österreich gelten derzeit etwa 900.000 Menschen als armutsgefährdet. Maßgeblich für die Armutsschwelle ist das gewichtete Pro-Kopf-Einkommen. Es beträgt für die erste erwachsene Person in einem Haushalt etwa 700 Euro, für einen weiteren Erwachsenen wird ein Faktor 0,5, pro Kind ein Faktor 0,3 dazu gerechnet. Eine Alleinerzieherin mit zwei Kindern sollte also über ein Mindesteinkommen von rund 700 Euro mal 1,6 verfügen.

Das macht aber, so Schenk, noch nicht Armut aus: "Es gibt Mangelindikatoren. Ein solcher ist, wenn man in Substandard oder in einer überbelegten Wohnung lebt, ein zweiter, wenn man Schulden oder Mietrückstände hat. Der dritte ist, wenn man die abgetragenen Kleider oder Schuhe der Kinder nicht ersetzen kann. Und der Indikator, der mir besonders wichtig ist, lautet: Wenn man sich nicht wenigstens einmal im Monat Freunde zum Essen einladen kann. Da werden zwei Dinge gemessen: dass man kein Geld hat, aber auch, dass man niemanden bewirten will, weil es daheim so schrecklich ausschaut - das ist ein Schamindikator, weil man niemandem sein Innerstes zeigen will."

Erst wenn neben dem Einkommen zwei dieser Indikatoren zutreffen, spricht man von Armut. Das trifft in Österreich derzeit auf etwa 300.000 Menschen - zwei Drittel davon Frauen - zu. Es gibt Regionen mit einem höheren Anteil an Armen: das nördliche Waldviertel, der Süden des Burgenlandes und der Steiermark, das westliche Kärnten und zunehmend Wien. In Wien führt Schenk das auf das Zunehmen von Langzeitarbeitslosigkeit und von "working poor" zurück, das sind Menschen, die zwar in Arbeit stehen, aber sehr niedrig entlohnt werden. In Österreich sind es etwa 57.000 Personen.

Große Sprünge können auch die Armutsgefährdeten nicht machen, aber "wenn man zum Beispiel die Eigentumswohnung von der Oma geerbt hat, dann ist schon ein Lebensbereich relativ gesichert". Es spiele heute schon eine große Rolle, dass ärmere junge Leute von Angehörigen durch so genannte informelle Transfers unterstützt werden: "Gerade in der oberen Mittelschicht kann man zum Teil den Lebensstandard nur noch so erhalten. Das heißt, dass Eltern oder Großeltern die Wohnung finanzieren oder dazuzahlen, wenn die Kinder etwas für die Schule oder zum Anziehen brauchen." Sinke die Höhe der Pensionen, würden aber mit der nächsten Generation diese Transfers nicht mehr möglich sein.

Bei der Berechung der Schwelle für Armutsgefährdung geht man, damit einzelne hohe Einkommen nicht den Durchschnitt verzerren, vom "Median" aus, den Schenk so erklärt: "Man legt jene Zahl fest, bei der 50 Prozent aller Einkommen darüber beziehungsweise die anderen 50 Prozent darunter liegen. Und 60 Prozent davon gelten als Armutsgrenze." Dass diese Formel in Ländern, wo die große Mehrheit schlecht verdient, fragwürdig ist, verhehlt Schenk nicht: " Wenn man das in den EU-Beitrittsländern so wie in den westlichen Wohlstandsländern berechnet, kommt man auf eine ganz geringe Armutsquote. Da muss sich die Armutsforschung etwas überlegen."

Die Organisationen, die zur 1995 gebildeten Armutskonferenz gehören, beraten und unterstützen im Jahr insgesamt 100.000 Personen. "Wir kommen nur an ein Drittel der Armen heran", sagt Martin Schenk. Das liege auch an der "hohen Fluktuation" unter den Armen. Ein relativ hoher Prozentsatz kommt nach wenigen Monaten in Sozialhilfe wieder aus der Armut heraus. Das größere Problem: "Es gibt eine große Gruppe, die sich geniert, die weder aufs Sozialamt noch zu einer Sozialeinrichtung geht. Man kann Armut am stärksten mit Scham definieren. Man will gerade in einer Wohlstandsgesellschaft nicht als jemand erscheinen, der verloren hat. Wenn man Familie hat, will man schon gar nicht, dass die Kinder oder die Freunde der Kinder in der Schule es bemerken. In Wien ist es ein bisschen anders, aber in einem kleinen Ort auf das Sozialamt zu gehen, wo man die Sekretärin oder den Bürgermeister kennt, das überlegt man sich dreimal."

Vom Slogan "Die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer" würde Schenk nur die erste Hälfte voll unterschreiben. Den Armen gehe es heute besser als Armen vor zwanzig Jahren. Aber ihre Zahl wachse: "Es werden sicher immer mehr durch die steigende Arbeitslosigkeit und die vielen Jobs, die nicht mehr existenzsichernd sind. Vor zehn Jahren waren hauptsächlich Leute in den Sozialberatungsstellen, die offensichtliche Handicaps hatten. Und sie waren meistens auch aus dem Arbeitsmarkt draußen. Das hat sich total geändert. Der jetzige klassische Fall in einer Sozialberatung ist eine Frau, mit ein, zwei Kindern und erwerbstätig, meistens im Dienstleistungssektor, die einfach mit ihrem Einkommen nicht über die Runden kommt."

Und die Schere zwischen Armen und Reichen werde größer. In diesem Zusammenhang verweist Schenk auf neue Daten aus dem Ausland: "Wenn die soziale Polarisierung einer Gesellschaft sichtbar wird, wenn bestimmte Stadtviertel verelenden oder gettoisiert werden, wenn das Sicherheitsrisiko in der U-Bahn zunimmt, wenn bestimmte Einkommensschichten im Schulsystem nicht mehr aufsteigen, dann gibt es Auswirkungen auf den Gesundheitszustand. Nicht die reichsten Industriestaaten haben die gesündeste Bevölkerung, sondern die, wo der soziale Zusammenhalt zumindest eine bestimmte Grenze nicht unterschreitet." So klafft die Lebenserwartung zwischen dem obersten und dem niedrigsten Einkommensfünftel in Österreich um fünf bis sechs Jahre auseinander, in England aber schon um acht bis neun Jahre.