Ein Rückblick auf das Jahr 2008, als SPÖ und ÖVP sehenden Augen gegen die Wand rannten.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien. Manche Dinge kann man nicht erklären. Weil sie dem gesunden Menschenverstand widersprechen - und trotzdem ihren Lauf nehmen. Und weil man solche Dinge nicht erklären kann, muss man sie erlebt haben, um zu verstehen, dass sie tatsächlich passieren können.
Vorzeitige Neuwahlen zum Beispiel. Solche können Regierungsparteien durchaus anstreben, wenn sie sich daraus einen Vorteil erhoffen. Der muss gar nicht eintreten. Es reicht ein ausreichend realistisch begründetes Kalkül, um dem Vorhaben einen rationalen Anstrich zu verleihen.
Doch davon kann in der aktuellen Lage der rot-schwarzen Bundesregierung nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Nicht nur dass sowohl SPÖ als auch ÖVP von den Wählern an den Urnen abgestraft würden, beide Langzeitregierungsparteien müssten mit dem Schlimmsten rechnen - der Verbannung in die Opposition. Und trotzdem spielen Rot wie Schwarz mit dem Feuer.
Wie schon 2008.
Intrigieren,streiten, mahnen
Vor fast genau sieben Jahren ist die politische Stimmung im Land am Boden. Die SPÖ sägt am Stuhl ihres Vorsitzenden und Bundeskanzlers, beide Regierungsparteien richten sich beinahe im Tagesrhythmus grobere Unfreundlichkeiten jeder Art aus. Die Bürger sind genervt vom ständigen Hickhack. Die Leitartikler mahnen zur ernsthaften Arbeit. Und die Opposition lehnt sich entspannt zurück und schaut SPÖ und ÖVP zu, wie diese ihr ureigenstes Geschäft erledigen: die Regierung zu beschädigen.
Aber der Reihe nach. Seit Monaten liegt sich die Koalition in den Haaren, gestritten wird vor allem über eine Gesundheitsreform samt wütenden Protestmaßnahmen der Ärzteschaft, die Pensionsautomatik und den richtigen Zeitpunkt für eine Steuerentlastung. Über der Anfang 2007 paktierten Koalition unter dem Duo Alfred Gusenbauer und Wilhelm Molterer hing der Haussegen von Beginn an schief. Als Anfang März 2008 die SPÖ gemeinsam mit der Opposition einen Untersuchungsausschuss über die einstigen Vorgänge im schwarz dominierten Innenministerium einsetzt, ist Feuer am Dach. Kurz darauf, am 9. März, wird Erwin Pröll von seinen Niederösterreichern quasi heiliggesprochen: 54,4 Prozent schafft seine ÖVP bei den Landtagswahlen, die SPÖ stürzt auf unter 30 Prozent ab.
In der Sozialdemokratie ist überhaupt die Stimmung am Boden. Zwei Tage nach dem Debakel sendet der ORF-"Report" ein mitgefilmtes Gespräch Gusenbauers. Ob das Funktionärstreffen eh etwas G’scheites werde oder doch wieder nur "das übliche Gesudere", fragt der Kanzler lässig. Diesen Spruch wird "der Gusi" nie wieder los. Es ist der Startschuss für eine offene Führungskrise in der SPÖ. Auf deren Höhepunkt wird Gusenbauer sagen, dass es in den Gremien "keinen einzigen Kritikpunkt gegeben habe".
"Es gibt keinePersonaldebatte"
Klingt bekannt. Die Namen sind natürlich andere. Heute werden ÖBB-Chef Christian Kern und Medienmanager Gerard Zeiler als mögliche Nachfolger für Bundeskanzler Werner Faymann gehandelt, damals heißen die Kandidaten Gabi Burgstaller und Faymann selbst; der ist zu jener Zeit noch Infrastrukturminister und die heißeste Aktie am roten Personalmarkt; und ganz hervorragende Kontakte zum Boulevard hat der Mann obendrein.
Der Ende März ausgerufene Osterfriede sorgt dann wenigstens an der Koalitionsfront für einen vergleichsweise ruhigen April. Dafür schafft es Österreich mit dem Bekanntwerden des Amstettener Inzestfalls in die internationalen Schlagzeilen (Kellernation). Und auch das Thema Asyl erregt damals schon Politik und Gesellschaft. Die mehrmals geplante und wieder abgesagte Abschiebung der aus dem Kosovo stammenden Familie Zogaj spaltet ein ganzes Land.
Im Juni 2008 nimmt die Geisterfahrt der Koalition wieder Fahrt auf. Den Auftakt macht die Tiroler Landtagswahl. ÖVP und SPÖ verlieren gemeinsam fast zwanzig Prozentpunkte, historische Tiefstände inklusive. Acht Tage später sucht die SPÖ den Befreiungsschlag. Gusenbauer gibt nach Monaten des parteiinternen Unmuts den Posten des Parteivorsitzenden ab, bleibt aber Kanzler. Mit der Überzeugung, dass er auch der nächste Spitzenkandidat der Partei sein werde, wie er anschließend kundtut, steht er jedoch Mutterseelen allein da. Kurz zuvor hatte SPÖ-Parteimanager Josef Kalina noch beteuert: "In der SPÖ gibt es keine Personaldebatte." Parteimanager müssen so reden.
Für die Sozialdemokratie ist damit ihre vermeintlich größte Baustelle - der Mann an der Spitze - behoben. Neuwahlen, willkommen! Interessanterweise denkt die Volkspartei nach dem Wechsel von Michael Spindelegger zu Reinhold Mitterlehner von sich heute genau das Gleiche.
Doch zurück ins Jahr 2008. In einem bemerkenswerten und bisher durchaus einzigartigen Leserbrief an "Krone"-Chef Hans Dichand kündigen Faymann und Gusenbauer diesem zuliebe einen Schwenk in der Europapolitik an: Künftig soll es bei wesentlichen EU-Vertragsänderungen eine Volksabstimmung geben. Der Alte ist zufrieden, die ÖVP tobt, etliche andere sind aufrichtig konsterniert.
Die Freiheitlichensagen Danke
Willi Molterer ergreift das dargebotene Danaer-Geschenk beim Schopf und spricht am 7. Juli: "Es reicht." Es ist der Anfang vom schnellen Ende seiner langen Politikerkarriere. Doch zu diesem Zeitpunkt sehen die vermeintlich allwissenden Politik-Experten ihn und die ÖVP noch mit guten Chancen auf Platz eins. Was Molterer nicht mitbedenkt: Fortan ist er das alte und Faymann das neue Gesicht im Wahlkampf.
Nach dem Aus herrscht allgemeine Erleichterung. Endlich vorbei! Und schlimmer, so dachte damals jeder, könne es ja wirklich kaum kommen. Immerhin dies sollte sich als zutreffend erweisen. Nur besser wurde es deshalb noch lange nicht.
Die Nationalratswahlen 2008 gehen schließlich am 28. September über die Bühne; da hat die Regierung gerade 20 Monate seit ihrer Angelobung absolviert. Gemeinsam verlieren SPÖ und ÖVP 14,5 Prozentpunkte, die SPÖ bleibt stärkste Kraft, nicht, weil sie gewinnt, sondern weil sie weniger verliert als die Volkspartei. Einziger Nutznießer des koalitionären Aderlasses sind die Freiheitlichen, die im Doppelpack antreten: FPÖ und BZÖ - mit Jörg Haider als Spitzenkandidat - gewinnen je sechs Prozentpunkte hinzu. Und die Grünen? Die verlieren, leicht, aber doch.
Die Wahlen fordern ihren Tribut: Gusenbauer ist Geschichte, Molterer und Van der Bellen detto. Haider stirbt und macht Heinz-Christian Strache so zum alleinigen Erben seines Politprojekts "Frustrierte-aller-Lager-vereinigt-Euch".
Und 2015? Heute scheitern SPÖ und ÖVP erneut daran, den Bürgern das Gefühl zu vermitteln, dass die Regierung weiß, wohin die Reise Österreichs gehen soll. Stattdessen gedeihen Streit und Neuwahl-Spekulationen. Das ist so himmelschreiend unvernünftig, dass es fast schon wieder mutig ist. Aber nur fast. Vor allem ist es nämlich dumm.
Und, ach ja, noch etwas haben 2008 und 2015 gemeinsam: Erwin Pröll und Michael Häupl stehen am Spielfeldrand.