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Reisen, um dem Alltag zu entfliehen - | die Schwierigkeit dabei: Es zuzulassen. Eine Flucht ist eben doch nicht so einfach.
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Wir erobern uns die Welt - aber reisen wir überhaupt noch? Alaska, Philippinen, Mali, wir kommen, aber bitte lasst uns schon dort sein! Wir wollen eigentlich gar nicht unterwegs, wir wollen schon angekommen sein. Wir jammern, wenn das Flugzeug eine Stunde Verspätung hat, der Bustransfer unpünktlich ist, das Zimmer vor dem Bezug gesäubert werden muss. Wir haben unsere Zeit schließlich nicht gestohlen und meinen, es uns nicht leisten zu können, etwas zu versäumen. 9.15 Uhr Besichtigung des Kolosseums, 10.30 Vatikan, 13.00 Lunch in der landestypischen Pizzeria. Wir ärgern uns maßlos über den italienischen Chauffeur, der einen Umweg nach Hause macht, um ein Päckchen abzuliefern, nur um daheim dann von der südländischen Mentalität zu schwärmen. Unser Ziel ist es, dem Alltag zu entfliehen, gleichzeitig geben wir viel Geld dafür aus, dass alles so reibungslos klappt wie daheim - und pressen den Tagesablauf in einen straffen Terminkalender. Die Reise wird in Buchhaltermanier absolviert. Es liegt an uns, uns auf die Fremde einzulassen, statt dessen hetzen wir von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten und klammern Überraschungen aus unserem Zeitbudget. Das Unerwartete, das Salz des Reisenden.
"Es prüfen vier Amerikanerinnen, / ob Cook auch recht hat und hier Bäume stehen / Paris von außen und Paris von innen / sie sehen nichts und müssen alles sehen", hatte Kurt Tucholsky bereits in den 1920ern notiert. Bevor wir noch dort sind, wissen wir schon ganz genau, was uns erwartet, haben die Sehenswürdigkeiten schon besichtigt, bevor wir noch in der Schlange davor stehen. Das Taj Mahal, tausend Mal gesehen und aus jedem Blickwinkel bereits betrachtet, en gros und en detail. Stehen wir endlich davor, hält sich das Staunen in Grenzen, weil wir ohnehin schon wussten, wie es aussehen würde. Wir haben keine Zeit, um es auf uns wirken zu lassen, noch zu viele Fotos, die nicht geschossen sind. Traurig genug, dass wir von unseren fünf Sinnen oft nur den einen benutzen, schändlich, dass wir vor diesen noch die Kamera halten. Dabei klingt, riecht, schmeckt und fühlt sich Indien genauso bunt an wie es aussieht. Wir entziehen uns stetig dem Zauber von Orten. Weil wir das Gefühl haben, sie zu kennen, weil wir das Bedürfnis verspüren, in den zwei Wochen, die uns gnädigerweise gegönnt sind, müssten die
Erlebnisse eines Jahres komprimiert sein. Wir stehen in der Erhabenheit der Hagia Sophia und sind gedanklich längst beim Bauchtanzabend.
Besonders sauer stößt es uns auf, dass alle anderen ebenso hier sind. Deren Präsenz unterstreicht unseren eigenen Status als Tourist. "Wir alle reisen aus Eitelkeit, um in diesem oder jenem Ort zu sein und gewesen zu sein; daher kommt die Eifersucht auf diejenigen, die das Erlebnis mit uns teilen und daher unsere Ehre schmälern", schrieb der britische Aristokrat Constantin Henry Phipps, Marquis von Normanby, 1825 über die wechselseitigen Feindschaften der Reisenden. Dabei war die Zahl der Reisenden zu seiner Zeit im Vergleich zu heute lächerlich gering. Tourist, was für ein hässliches Wort: Touristen laufen wie Schafe ihrem Reiseleiter nach, sehen nicht nach links und rechts, meiden die Auseinandersetzung mit Land und Leuten. Nein, nein, wir sind keine Touristen, wir haben einen Reiseführer gespickt mit Insider-Tipps gekauft. Wir bewegen uns abseits der Massen und sind dann überrascht, wenn auch andere das Beisl gefunden haben, "in dem nur die Einheimischen einkehren". Auf der Suche nach Authentizität buchen wir das Abenteuer als Pauschalpaket mit Komfort: Das Schauspiel eines Hahnenkampfs auf Bali, das Lemurentrekking auf Madagaskar, der Spaziergang über den indigenen Markt von Chichicastenango sind wohlorganisierte Punkte in den Reiseprogrammen der Veranstalter, die uns danach schnell wieder in die Sicherheit unseres Luxushotels bringen. Dort können wir uns beglückwünschen, "abseits ausgetrampelter Pfade" gewandelt zu sein und Orte aufgesucht zu haben, "in denen die Zeit stehen geblieben ist".
Natürlich ist die Zeit nirgendwo stehen geblieben, schon gar nicht an Orten, die für uns erreichbar sind. Vergessen wir nicht, dass unser Wunsch zynisch ist: Wir sind auf der Suche nach dem verlorenen Paradies, in dem nicht der Konsum zählt, sondern das Edle im Menschen - wir möchten doch so gerne glauben, dass wir all das nicht bräuchten, auf das wir niemals freiwillig verzichten würden. Rümpfen wir ergo nicht entsetzt die Nase über die Satellitenschüsseln im chinesischen Bergdorf, gönnen wir den Bewohnern lieber ihren kleinen Anteil am 21. Jahrhundert. "Die Karawanenreisen sind sehr ermüdend: Man geht zwar immer im Schritte, aber unausgesetzt neun, auch bis zwölf Stunden ... Oft hatten wir in unserer Karawane ein wahres Gesindel, vor dem ich mich mehr fürchtete als vor den Räubern." 1848 schrieb die Wienerin Ida Pfeiffer, eine der ersten weiblichen Weltreisenden, diese Zeilen in ihr Tagebuch. Angesichts dieser Lektüre können wir heilfroh sein, dass es ausgetrampelte Pfade gibt! Freuen wir uns, dass wir die Masai Mara per Flugzeug erreichen, dass wir tatsächlich Plätze außerhalb unseres Raumes und unserer Zeit besuchen können, ohne gleich um unser Leben fürchten zu müssen.
Abenteuer können wir trotzdem erleben. Wir müssen es nur zulassen. Hören wir auf, uns vor Montezumas Rache zu fürchten, und wagen wir einen Snack in der Garküche am Straßenrand. Verzichten wir auf die Bequemlichkeit eines Vier-Sterne-Hotels und mieten uns in einem kleinen Gästehaus ein. Fahren wir mit dem Sammeltaxi oder dem Fahrrad zum Sightseeing und lassen wir den Reiseleiter im klimatisierten Bus ohne uns plappern. Es ist keinesfalls notwendig, auf der Suche nach dem ultimativen Reiseerlebnis, die Highlights zu umschiffen. Im Gegenteil: Es wäre idiotisch, nach Yucatán zu fliegen und um Chichén Izá einen großen Bogen zu machen, bloß weil wir just nicht Tourist sein mögen. Wir haben jedoch die Wahl, eine Reise mit einer Liste zu führen, auf der nur die (fotographisch belegten) Häkchen zählen - oder den Weg dazwischen als ebenso lohnenswert zu sehen. Wem der Spruch vom Weg als Ziel zu platt ist, hält sich an Goethe: "Man reist nicht nur um anzukommen, sondern vor allem, um unterwegs zu sein." Wir müssen es ja nicht übertreiben und einzig und alleine die Rucksackreise mit klapprigen Bussen von einer zehn-Dollar-Absteige zur nächsten als einzig wahre Art des Reisens proklamieren - wie es die selbsternannten Globetrotter gerne tun und dabei mit einer überlegenen Miene auf die Pauschaltouristen heruntersehen. Aber wir können erstens eine Reise planen, die uns maximalen Freiraum gewährt, und zweitens diesen dann auch nützen. Statt nach der Besichtigung den Nachmittag am Pool zu hängen, steht es uns frei, unsere Umgebung selbst zu erkunden. Streichen wir den organisierten Folkloretanz und gehen wir statt dessen am Nachtmarkt shoppen. Lassen wir uns also ein auf die Reise: An sich ist der Mensch ein robustes Wesen und übersteht auch hautnahe Begegnungen mit seinem Urlaubsland anstandslos.
Reisen ist mehr als der Aufbruch zu neuen Orten, eine Reise ist auch eine Expedition ins eigene Ich. Der chinesische Philosoph Lao-Tse meinte metaphorisch: "Reisen ist besonders schön, wenn man nicht weiß, wohin es geht. Aber am allerschönsten ist es, wenn man nicht mehr weiß, woher man kommt." Auf den Punkt brachte es Albert Camus: "Das Reisen führt uns zu uns zurück." Oscar Wilde sah das ähnlich: "Reisen veredelt den Geist und räumt mit Vorurteilen auf." Gut, 14 Tage Besichtigungstour in Vietnam werden kaum reichen, aus uns einen neuen, gütigeren Menschen zu machen, aber besser ein kleiner Schritt als gar keiner. Wenn wir das starre Gerüst des Alltags ablegen und uns für die Dauer des Urlaubs einfach nur staunend treiben lassen, dankbar dafür, dass wir das erleben dürfen, können wir auf eine Gelassenheit hoffen, der wir sonst nur hechelnd hinterherlaufen. Neue Sichtweisen eröffnen sich, die Wertigkeiten verschieben sich, plötzlich versteht man selbst nicht mehr, wie man den Anschnauzer vom Chef krummnehmen konnte. Um es noch einmal mit Goethe auszudrücken: "Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiß in einem Lande, wo Elefanten und Tiger zu Hause sind."