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Reisender für das "Dritte Reich"

Von Edwin Baumgartner

Wissen

Heinrich Harrer war SS-Mann | und Lehrer des Dalai Lama.


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Keine herausragende Persönlichkeit übersteht eine Diktatur unbeschadet. Denn Diktaturen versichern sich der Mitarbeit herausragender Persönlichkeiten. Wer mitarbeitet, wird moralisch korrumpiert, wer die Mitarbeit verweigert, zur Emigration genötigt oder ermordet. Hinzu kommt ein anderes Faktum: Ist die Dauer der Diktatur absehbar, kann man eventuell durchtauchen. Doch 1933 ist das Ende des Nationalsozialismus keineswegs vorprogrammiert. Wer Karriere machen will, muss sich arrangieren.

Und Heinrich Harrer, am 6. Juli 1912 im Kärntner Obergossen geborener Lehrer für Geografie und Sport, will nicht Lehrer bleiben. Er strebt eine Karriere als Sportler und Forscher an. Er weiß, dass er für die Karriere, die ihm vorschwebt, Rückhalt im Deutschen Reich braucht, und für diesen Rückhalt muss er der NSDAP beitreten. Vielleicht begeistert sich das Mitglied des Akademischen Turnvereins Graz anfänglich sogar wirklich für den Nationalsozialismus. Immerhin tritt Harrer bereits im Oktober 1933 im Untergrund der SA bei. Später nennt er das einen "dummen Fehler" und einen "ideologischen Irrtum".

Zu dieser Zeit scheint eine Karriere als Sportler vorgezeichnet, und Harrer ist in vielen Sparten erfolgreich: Er punktet als Akademischer Abfahrtsweltmeister und als Österreichischer Golfmeister. 1936 soll Harrer an den Olympischen Winterspielen in Garmisch-Partenkirchen in den Disziplinen Abfahrt und Slalom teilnehmen, dann aber boykottieren Österreich und die Schweiz die Spiele wegen Streitigkeiten um den Profi-Status von Skilehrern.

Heiratsvermittler Himmler

1938 gelingt es Harrer, mit einem Husarenstück die nationalsozialistischen Machthaber auf sich aufmerksam zu machen: Zusammen mit Anderl Heckmair, Fritz Kasparek und Ludwig Vörg schafft er von 21. bis 24. Juli die Erstbesteigung der Eiger-Nordwand, ein Prestigeprojekt der Nationalsozialisten. Heckmair, Kasparek und Vörg sind weitgehend unpolitisch. Harrer hingegen demonstriert deutlich, wo sein Herz schlägt: Noch vor der Tour war er am 1. April 1938 der SS, am 1. Mai der NSDAP beigetreten. Adolf Hitler empfängt die vier Bergsteiger und schenkt jedem von ihnen ein Foto. Der Name Heinrich Harrer bleibt ihm besonders im Gedächtnis haften. Reichsführer-SS Heinrich Himmler selbst ist die treibende Kraft hinter der Ehe Harrers mit Lotte Wegener, der Tochter des deutschen Polarforschers Alfred Wegener. Wegener, der die Theorie der Kontinentalverschiebung aufstellte, war 1930 im Grönlandeis ums Leben gekommen und gilt, obwohl nicht völkisch gesinnt, den Nationalsozialisten als ein Held der deutschen Wissenschaft. Die Ehe Harrers, der Sohn Peter entspringt, hält allerdings nur ein paar Jahre.

Im Sommer 1939 nimmt Harrer an einer deutschen Forschungsmission zum Nanga Parbat teil. Leiter der von der Deutschen Himalaya-Stiftung organisierten Expedition ist deren hauptamtlicher Geschäftsführer, der Österreicher Peter Aufschnaiter, wie Harrer NSDAP-Mitglied.

Deutscher Tibet-Rausch

Doch was treibt die Nationalsozialisten ins damals kaum erforschte Tibet? Weshalb erklären sie den Nanga Parbat zum "Schicksalsberg der Deutschen"? Es hat mit den mystisch-esoterischen Vorstellungen zu tun, die eine Säule des Nationalsozialismus darstellen. Vor allem Heinrich Himmler, der schon seine SS als eine Art nationalsozialistischen Orden versteht, hängt dieser dunklen Mystik an. 1935 gründet Himmler die "Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe" mit dem Ziel, die arische Rasse zu erforschen. Basis sind die okkulten Lehren der gebürtigen Russin Helena Petrovna Blavatskaja.

Der österreichische Okkultist Adolf Joseph Lanz, der sich Jörg Lanz von Liebenfels nennt, und der österreichische Esoteriker Guido von List destillieren daraus die "Ariosophie". Kern dieser Lehre ist, in grauer Vorzeit habe es eine ur-arische Rasse gegeben, abstammend von den Bewohnern des untergegangenen Atlantis. Himmler war überzeugt, die arischen Atlanter hätten sich und ihre prä-antike Zivilisation in den Himalaja gerettet. Damit gerät Tibet in den Brennpunkt nationalsozialistischer Interessen.

Schon 1934 befasst sich der Spielfilm "Der Dämon des Himalaya", den der gebürtige Ungar Andrew Marton mit dem deutschen Hans Ertl als Kameramann in Tibet drehte, mit einer deutschen Himalaya-Expedition. 1938 schickt Himmler eine Expedition unter Leitung des Zoologen Ernst Schäfer nach Tibet, die es versteht, eine Einladung des tibetischen Ministerrats zu organisieren und damit das Einreiseverbot der britisch-indischen Behörden auszuhebeln. Die Expeditionsteilnehmer vermessen die Köpfe von rund 300 Tibetern und nehmen Masken ab. Der Film "Geheimnis Tibet" dokumentiert die Expedition, rund 400 Publikationen versetzen das sogenannte Dritte Reich in einen Tibet-Rausch: Tollkühne SS-Männer als Wissenschafter und Forscher, die SS als die Gruppierung, in der geistige Elite, Abenteuerlust und ariosophische Mystik verschmelzen - das ist es, was der Nationalsozialismus braucht.

Vor diesem Hintergrund ist auch die Tibet-Expedition von Aufschnaiter und Harrer zu sehen. Doch während Schäfers Gruppe gerade noch aus Indien ausreisen kann, endet 1939 die Reise von Aufschnaiters Gruppe in Karatschi. Das Schiff, das die Deutschen in die Heimat zurückbringen hätte sollen, hat Verspätung. Die Briten arretieren die Deutschen. Nachdem Großbritannien am 3. September Deutschland den Krieg erklärt, wird die Gruppe im Internierungslager Ahmadnagar bei Bombay und schließlich in Dehra Dun am Fuß des Himalaya untergebracht.

Nach vier gescheiterten Versuchen gelingt Harrer, Aufschnaiter und fünf weiteren Männern am 29. April 1944 die Flucht. Die Männer versuchen, sich nach Tibet durchzuschlagen. Nach und nach zerfällt die Gruppe. Zusammen bleiben nur Harrer und Aufschnaiter. Nach einer Odyssee, in deren Verlauf sie rund 50 Pässe, alle in einer Höhe von 5000 Meter und mehr, überwunden und mehr als 2000 Kilometer zu Fuß zurückgelegt haben, erreichen sie am 15. Jänner 1946 Lhasa.

Der Letzte seiner Art

Hier wird Aufschnaiter zum Berater in landwirtschaftlichen und städtebaulichen Fragen, während Harrer den erst 11-jährigen 14. Dalai Lama in Englisch, Geografie und Mathematik unterrichtet. Harrer wird zum engen Vertrauten und persönlichen Freund des Oberhaupts der tibetischen Buddhisten. 1950 überfällt die Volksrepublik China Tibet. 1951 flieht Harrer vor den chinesischen Usurpatoren nach Indien und gelangt von dort 1952 zurück nach Europa. Seine Erlebnisse verarbeitet er im Buch "Sieben Jahre in Tibet", das zum Bestseller wird.

In der Folge unternimmt Harrer etliche weitere Forschungsreisen vor allem nach Indien und in die an Indien angrenzenden Staaten. Mehr als 20 Bücher verfasst er über seine Reisen. Von 1965 bis 1983 zeigt die ARD die Reihe "Heinrich Harrer berichtet", endgültige Manifestation dessen, was längst klar ist: Heinrich Harrer ist einer der letzten großen Forschungsreisenden in der Tradition eines Georg Forster oder eines Sven Hedin.

1997 allerdings holt ihn die Vergangenheit ein: Man beschuldigt den 85-Jährigen, seine Verstrickung in den Nationalsozialismus nie thematisiert zu haben. Es beginnt eine Hetze, die bis zu Harrers Tod am 7. Januar 2006 in Friesach nicht endet. Doch obwohl Harrer zu einem blindwütigen Nationalsozialisten der ersten Stunde stilisiert wird, distanziert sich der Dalai Lama nie von ihm. Vielleicht entspringt diese Haltung einer langen Freundschaft, vielleicht aber auch einer tieferen Einsicht.