Zum Hauptinhalt springen

"Reißt den Grenzzaun nieder!"

Von WZ-Korrespondent Ferry Batzoglou

Politik

Demonstranten fordern sichere Fluchtwege nach Griechenland. Der Druck auf die Regierung in Athen wächst.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Kastanies/Evros. Die Lage eskalierte schnell: Rund 600 Demonstranten steuern an diesem kalten Samstagnachmittag schnurstracks auf die griechisch-türkische Landesgrenze in der winzigen Ortschaft Kastanies zu. Die griechische Polizei kann die aufgebrachte Menschenmenge erst kurz vor der Schranke an der ansonsten ruhigen Zollstation stoppen - aber nur unter dem massiven Einsatz von Tränengas und Blendgranaten.

Es dauert mehrere Stunden, bis die Protestler abziehen. Unentwegt skandieren sie aus vollen Kehlen: "Reißt den Grenzzaun nieder!" Was sie damit wollen, erklärt Daphne, eine der Demonstranten. "Wir wollen Flüchtlingen sichere Wege nach Europa öffnen! Und zwar sofort! Keine Tote mehr in der Ägäis!" Das Motto der Demonstration sei: "Gegen eine Festung Europa! Papiere für alle! Keine einzige Abschiebung!" Ihre Augen funkeln, als sie das sagt.

Es sind die ersten Proteste dieser Art in Kastanies. Mit Bussen und Autos sind Daphne und Co. aus Thessaloniki, Athen, Patras und anderen Städten in Griechenland angereist. Darunter sind auch Vertreter der Parteijugend sowie der einflussreichen Sektion Menschenrechte der Athener Regierungspartei "Bündnis der Radikalen Linken" ("Syriza") von Premierminister Alexis Tsipras.

Ihr Ziel: der Grenzzaun zwischen Kastanies und dem Nachbarort Nea Vyssa, 10.365 Meter lang, vier Meter hoch.

"Nicht einmal eine Mücke kommt über die Grenze"

Fertiggestellt ist der Grenzzaun seit Ende 2012. Schon unmittelbar nach Baubeginn im August 2012 fiel die Zahl der illegal Einreisenden an der griechisch-türkischen Festlandsgrenze drastisch. Registrierten die griechischen Behörden in diesem Abschnitt in den ersten acht Monaten im Jahr 2012 noch 29.927 illegal Einreisende, waren es von Januar bis Ende August 2013 nur noch 585 - ein Rückgang um volle 98 Prozent. So ist das bis heute.

Die konservative Athener Tageszeitung "Kathimerini" frohlockte nach der Errichtung des Grenzzauns: "In Evros kommt nicht einmal eine Mücke über die Grenze." Evros ist die östlichste Präfektur des griechischen Festlands und der Verwaltungsregion Ostmakedonien und Thrakien.

Edirne wiederum ist die westlichste Stadt der Türkei. Sie war zuvor der Flaschenhals für illegale Einwanderer auf ihrem langen, und extrem beschwerlichen Weg nach Europa. Denn nur hier macht der Fluss Evros an der 160 Kilometer langen Festlandsgrenze zwischen Griechenland und der Türkei einen Knick und fließt ein Stück durch die Türkei. Brücken führen in Edirne über den Fluss. Dann ist es nur noch ein kurzer Fußmarsch bis zu den EU-Außenposten Kastanies und Nea Vyssa. Die Schlepper sagten, wo’s langgeht - gegen Bares, versteht sich. Und sie kamen zu Zehntausenden aus Syrien, dem Irak, Afghanistan, Pakistan, Bangladesch, Iran und Afrika. Griechenland wurde zum Einfallstor in den Westen auf dem Landweg, rund 90 Prozent aller illegalen Einwanderer kamen so nach Europa.

Nur: Das alles war einmal. Seit der Grenzzaun in Evros steht, kommt das Gros der Flüchtlinge vom türkischen Festland über die Ostägäis vor allem auf den Inseln Lesbos, Samos, Chios, Kos und Leros an - falls sie in den oft völlig überfüllten Flüchtlingsbooten die riskante Reise überhaupt überleben.

Der Bürgermeister von Lesbos, Spyros Galinos, fordert schon, dass Fähren die Flüchtlinge fortan direkt und sicher aus der Türkei nach Griechenland bringen sollen. Galinos’ Argument: Solange die Türkei nicht den Flüchtlingsstrom gen Westen kontrolliere oder kontrollieren wolle, bliebe keine andere Möglichkeit, als diese Menschen zur Registrierung mit Fähren auf seine Insel zu bringen, damit sie nicht im Meer ertränken. "Wir müssen diese Verbrechen beenden", sagt Galinos. Die Leichenhallen der Insel seien voll mit Opfern, klagt er.

Ob sichere Fluchtwege für die Flüchtlinge durch das Niederreissen des Grenzzauns in der Region Evros oder per Einsatz von Fähren in der Ägäis: Der Druck auf Athens Regierungschef Tsipras wird angesichts der immer neuen Toten in der Ostägäis zunehmend grösser, endlich zu handeln.

Schon längst liebäugelt die Regierung Tsipras den von der konservativen Vorgängerregierung errichteten Grenzzaun in Evros aus innenpolitischen Gründen abzuschaffen. Als Syriza noch in der Opposition war, hatten sich Tsipras und Co. das Niederreißen des verhassten Grenzzauns in Evros demonstrativ auf die Fahnen geschrieben.