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Rekordstrafen für Terrorverdächtige

Von WZ-Korrespondent Günther Bading

Europaarchiv

Richterspruch zieht keinen Schlussstrich unter Debatte. | 29 mutmaßliche Täter sitzen auf der Anklagebank. | Madrid. Dreieinhalb Jahre nach dem folgenschwersten Terroranschlag in Europa wird am heutigen Mittwoch das Urteil gegen 29 Täter und Mittäter gesprochen. Bei Bombenanschlägen auf vier Madrider Vorortzüge waren 192 Menschen getötet und 1800 verletzt worden. Es ist unbestritten, dass die Anschläge das Ergebnis der Parlamentswahlen drei Tage später beeinflusst haben, die einen Machtwechsel von den Kon-servativen zu den Sozialisten brachten.


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Einen Schlussstrich unter die Debatte, was an jenem Morgen des 11. März 2004 tatsächlich geschehen ist und wer die Drahtzieher hinter dem Attentat waren, wird der Richterspruch nicht ziehen können. Zu viele Fragen sind in den Ermittlungen und in der Monate dauernden mündlichen Verhandlung offen geblieben. Auch, wenn 600 Zeugen durch die drei Berufsrichter, zwei Staatsanwälte und 48 Anwälte der Verteidigung und der Nebenkläger befragt worden sind.

Liest man die 1400 Seiten starke Anklageschrift, so ist der Fall klar: Der Anschlag wurde durch Islamisten ausgeführt, auf Geheiß von Al Kaida, aus Protest gegen die Stationierung spanischer Truppen im Irak. Die Täter waren Islamisten und kamen überwiegend aus Marokko. Der Sprengstoff wurde von Spaniern in Asturien aus einer Mine gestohlen und an die Terrorgruppe geliefert, die mit Haschisch aus Marokko bezahlte. Sieben der Haupttäter sprengten sich Anfang April im Vorort Leganés selber in die Luft, um der Verhaftung durch die Polizei zu entgehen. Und: die unmittelbar nach den Explosionen als Täter vermutete baskische Terrorgruppe ETA hatte mit den Anschlägen nichts zu tun.

Soweit die offizielle Version. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss kam zum selben Ergebnis. Allerdings ist der Wert der Ausschussarbeit in Frage gestellt, weil fast alle Zeugen, die von der oppositionellen Volkspartei aufgerufen wurden, von der Mehrheit der sozialistisch geführten Koalition abgelehnt wurden und nicht aussagen durften.

Im Laufe der Ermittlungen wurden 116 Menschen festgenommen. 29 kamen auf die Anklagebank, zwei von ihnen sind mangels Beweisen wieder auf freiem Fuß. Neben den sieben Selbstmördern fehlen vier mutmaßliche Haupttäter, die flüchtig sind und nicht gefasst werden konnten.

Die Staatsanwaltschaft hat eine Gesamtstrafe von mehr als 300.000 Jahren gefordert, für einzelne Angeklagte 33.000 Jahre. Das ist in Spanien möglich, weil die Strafen für einzelne Morde - hier 192 - nicht zusammengefasst, sondern einzeln aufgelistet werden. Verbüßt werden maximal 30 Jahre. Unter den Angeklagten ist Rabei Osman El Sayed, genannt "der Ägypter". Er soll eines der Gehirne des Madrider Anschlags sein. In Italien war er als Führer der Europa-Zelle von El Kaida verurteilt. Zum Prozess wurde er nach Madrid ausgeliefert. Zwei Tage vor der Madrider Urteilsverkündigung allerdings reduzierte ein Gericht in Mailand Rabeis Strafe; er sei nur Mitläufer von El Kaida, keinesfalls ein Anführer befanden die Richter.

Widersprüche

Verteidigung und Nebenkläger verweisen auf Widersprüche in der Anklage und kritisieren die Ermittlungen als fehlerhaft. Unklar ist demnach die "Tatwaffe". Die Staatsanwaltschaft behauptet, es handele sich um den Sprengstoff "Goma 2 Eco" aus spanischer Produktion. Der wissenschaftliche Dienst der Polizei konnte keinen Beweis dafür liefern. Während des laufenden Prozesses wurde eine neue Expertise angeordnet, die unter anderem das Vorhandensein von Dinitrotoluol (DNT) nachwies. Die angeblich verwendete Sprengmasse Goma 2 Eco enthält kein DNT. Aufschluss hätte die Untersuchung der Rückstände in den gesprengten Zügen geben können. Diese Waggons sind allerdings schon wenige Tage nach den Attentaten mit ausdrücklicher Genehmigung von Untersuchungsrichter del Olmos verschrottet worden.

Für die Verteidigung ein entscheidendes Moment. Wenn anderer Sprengstoff verwendet wurde, ist die Indizienkette vom Dynamit-Klau in Asturien bis zur Lieferung an die Islamisten und die Explosion in den Zügen nicht haltbar. Rodríguez Sergura, ein Anwalt des Verbandes der Terroropfer AVT, kritisiert die Ermittlungsfehler: "Es gibt nichts über die Bomben in den Zügen: weder die Art des Sprengstoffs, noch der Zünder, noch der Auslöser. Wenn man dem die Zerstörung der Züge hinzufügt, so kann man sich dem Eindruck nicht entziehen, dass von Anfang an mit allen Mitteln versucht wurde, zu verschleiern, was für Bomben in den Zügen detonierten."

Die Ungereimtheiten sind jedenfalls Wasser auf die Mühlen von Verschwörungstheoretikern, die die Beteiligung von Polizeikreisen an Vertuschungsmanövern vermuten.