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Religion erreicht auch Staatsspitze

Von Martyna Czarnowska

Europaarchiv

Islamisch geprägte Partei stellt sowohl Regierungsals auch Staatschef. | Gül erst in dritter Runde gewählt. | Forcierte EUPolitik als gemeinsame Aufgabe. | Ankara. Erol will es schon im Vorhinein gewusst haben. Der 33-jährige türkische Bauarbeiter lebt zwar seit fünf Jahren in Wien, doch die Politik in seiner Heimat interessiert ihn fast mehr als die Österreichs. Er ist auch vor einem Monat in die Türkei geflogen, um seine Stimme bei der Parlamentswahl abzugeben - für die AKP. Die islamisch geprägte Regierungspartei von Premierminister Recep Tayyip Erdogan hatte fast jeder zweite Türke gewählt. "Und danach war schon klar, dass Abdullah Gül Präsident wird", meint Erol.


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Die Kandidatur des Außenministers für das höchste Amt im Staat war allerdings bis zum Schluss umstritten. Noch im April veranlasste sie die Nationalisten dazu, hunderttausende Menschen zu Protestmärschen zu mobilisieren und die Militärs dazu, vor einer radikalen Islamisierung des säkulären Staates zu warnen. Auch jetzt brachte Generalstabschef Yasar Büyükanit via Internet die Entschlossenheit der Streitkräfte zum Ausdruck, die Demokratie sowie die Trennung von Staat und Religion zu verteidigen. Doch von einer Putschdrohung wie vor wenigen Monaten konnte keine Rede mehr sein.

Denn die als Ausweg aus der Krise um die Kür des Präsidenten vorgezogene Parlamentswahl und der fulminante AKP-Sieg konnte auch als Signal an die Militärs gelten, sich nicht allzu sehr in die Politik der Regierung einzumischen. Dieser rechnen viele Türken nicht so sehr die religiöse Prägung wie den wirtschaftlichen Aufschwung ihres Landes in den vergangenen Jahren hoch an. Und dass nun erstmals in der Geschichte der modernen Türkei ein ehemaliger Islamist Präsident wird - dessen Frau Hayrünisa Gül ihren Kopf bedeckt -, scheint die meisten nicht zu stören. Drei von vier Türken sehen kein Problem darin, dass die künftige First Lady ein Kopftuch trägt, fand das Meinungsforschungsinstitut Konda heraus.

Ernennung der Regierung steht an

Gül wurde erst in der dritten Runde im Parlament zum Präsidenten gewählt: 339 der 550 Mandatare stimmten für ihn. Zuvor war der Außenminister zweimal an der notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit gescheitert. Die kemalistische Oppositionspartei CHP weigerte sich, ein Votum für Gül abzugehen. Im dritten Wahlgang war nur eine absolute Stimmenmehrheit erforderlich - über die die AKP allein verfügt.

Eine der ersten Aufgaben des neuen Präsidenten wird die Angelobung seines langjährigen politischen Weggefährten als Premier sein. Das scheidende Staatsoberhaupt Ahmet Necdet Sezer wollte die Regierung Erdogan nicht mehr selbst anloben sondern es seinem Nachfolger überlassen. Überhaupt stand es um die Beziehungen zwischen Regierungs- und Staatschef in letzter Zeit nicht zum Besten. Mehrmals hatte Sezer die Umsetzung von Reformvorhaben verzögert, indem er sein Veto gegen Gesetzesentwürfe einlegte.

Dass Gül Erdogan mehr unterstützen wird, dessen kann sich der Premier zumindest in einem Punkt sicher sein. Beide Politiker treten im In- und Ausland als überzeugte Befürworter eines Beitritts der Türkei zur Europäischen Union auf. Viele der dafür notwendigen Veränderungen im Land hat die AKP vorangetrieben. Schon bereite die Regierung eine neue EU-Kampagne vor, berichteten die "Turkish Daily News". Neben weiteren Reformen stehen demnach auch Besuche des Premiers in europäischen Hauptstädten an, bei denen Erdogan für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei werben wolle.

EU-Beitritt statt Partnerschaft

Dabei kann er sich der Rückendeckung des Präsidenten ebenfalls gewiss sein. Denn eine sogenannte privilegierte Partnerschaft statt eines EU-Beitritts, wie einst von Deutschland und Frankreich lanciert, lehnt Gül ebenso vehement ab wie Erdogan. Brüssel nahm daher mit Erleichterung die Signale aus Paris auf, dass Frankreich die Gespräche mit der Türkei nicht blockieren wolle. Präsident Nicolas Sarkozy hatte erklärt, sich der Eröffnung neuer Verhandlungskapitel zwischen der Union und der Türkei "in den kommenden Monaten und Jahren nicht entgegenzustellen", wenn die EU-Mitglieder der Einsetzung eines "Weisen-Ausschusses" zur Zukunft Europas zustimmen.

Es ist daher zu erwarten, dass - nachdem die innenpolitischen Debatten abgeflaut sind - die Türkei wieder als selbstbewusste Beitrittskandidatin international aktiver wird. Doch bevor es wieder ans Verhandeln geht, wurde noch gefeiert. Zumindest in Güls Geburtsstadt Kayseri: Dort wurde dem neuen Präsidenten mit einem Riesenfeuerwerk gehuldigt.

Zur Person: Abdullah GülAmt mit Symbolkraft