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Experten sehen zwischen Zwangsehen und Religion keinen Zusammenhang.
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Berlin/Wien. Manche emotionalen Debatten lassen sich anscheinend nur schwer versachlichen, selbst wenn wissenschaftlich belegte Daten beigesteuert werden. Zuweilen sind verlässliche Daten aber nur schwer zu finden. So etwa beim Thema "Zwangsehe".
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Offizielle Zahlen dazu gibt es in Österreich nicht. Die von der Stadt Wien und vom Bund geförderte Wiener Frauenservicestelle "Orient Express" ist die österreichweit einzige Beratungsstelle mit intensiver Krisenbetreuung für von Zwangsheirat bedrohte und betroffene Frauen. Ein bestimmter Ehrbegriff sei einer der beiden Hauptgründe für erzwungene Ehen, erzählt Gül Ayse Basari, eine Sozialarbeiterin des "Orient Express". Die Eltern hätten Angst, ihre noch minderjährige Tochter könne "auf den falschen Weg" geraten. Ein anderer Beweggrund sei das Verlangen, das finanzielle Vermögen in der Familie zu behalten. "Einige Zwangsehen finden daher vor allem innerhalb der Verwandtschaft statt", berichtet Basari.
Die Zahl der Frauen, die wegen einer Zwangsheirat das Service des "Orient Expresses" aufgesucht haben, ist in den vergangenen Jahren beträchtlich gestiegen; waren es 2004 noch 26, so suchten 2011 bereits 83 Frauen Rat bei der Wiener Beratungsstelle. Basari führt das auf die zunehmende Vernetzung der Einrichtung zurück. Speziell die präventive Informationsarbeit durch Workshops an Schulen habe gepunktet. Viele Lehrerinnen hätten seither Schülerinnen an den Verein weitergeleitet. 54 der 83 Klientinnen wurde eine Zwangsehe nur angedroht, sie wurde aber noch nicht geschlossen. Die meisten dieser 54 Frauen waren minderjährig.
Dass Zwangsehe eine Frage der Integration sei, hält die Expertin für "Blödsinn": "Bei mir sind oft Klientinnen mit perfekten Deutschkenntnissen und österreichischer Staatsbürgerschaft." Das Phänomen trete in allen sozialen Schichten auf, sei ebenso wenig eine Frage der Bildung und auch keine der Religion: "In der Türkei betrifft es Sunniten, Aleviten und Christen gleichermaßen." Man betreue ebenso römisch-katholische Frauen aus dem Roma-Milieu und buddhistische aus Indien. Es gebe halt wechselnde Trends. Kürzlich sei die Anzahl tschetschenischer Frauen gestiegen.
Anders als in Österreich hat in Deutschland das Bundesfamilienministerium im vergangenen Jahr eine Studie zu Zwangsehen in Auftrag gegeben, deren Präsentation jedoch für weitere Kontroversen sorgte. Das Thema "Religion" war dafür ausschlaggebend.
Die meisten Opfer von Zwangsehen in Deutschland sind der Studie zufolge Muslime zwischen 18 und 21 Jahren mit meist stark religiösem Hintergrund. "Wer flieht und sich dagegen wehrt, riskiert Isolierung in der eigenen Familie", sagte Familienministerin Kristina Schröder (CDU) bei der Vorstellung der Ergebnisse Berlin. Für die Erhebung wurden 830 Beratungsstellen befragt, ob drohende oder bereits vollzogene Zwangsverheiratung in ihrer Arbeit eine Rolle gespielt hat. 366 der Stellen wussten von 3443 Fällen. Fast alle stammen aus Zuwandererfamilien. 44 Prozent sind türkischer Abstammung. 32 Prozent wurden in Deutschland geboren. 41 Prozent haben die deutsche Staatsbürgerschaft.
Die Ursache sahen die Studienautoren primär in ländlichen Familienstrukturen der Herkunftsregionen. Familien mit starkem Zusammenhalt seien dort überlebenswichtig und manche Migranten behielten dieses Beziehungsgeflecht in Deutschland bei. Doch Ministerin Schröder setzte nach: Der Zusammenhang mit dem Islam dürfe dennoch nicht geleugnet werden, sagte sie.
"Kein islamisches Gebot"
"Es hat nichts mit der Religion zu tun", konterte die Grüne Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz. "Ich wüsste kein Gebot, das im islamischen Recht darauf hinweist." Auch Nurhan Soykan, Generalsekretärin des Zentralrats der Muslime, betonte: "Diese Form der Ehe kann sich nicht auf den Islam berufen, er verbietet ausdrücklich die Zwangsverheiratung."
Drei Wochen nach Vorstellung der Studie hagelte es weitere heftige Kritik von Seiten der Wissenschaft. Ihre Daten seien falsch interpretiert worden, wehrten sich die Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats und Workshops der Studie. Die Studie könne Mehrfachnennungen beinhalten, Fälle könnten also doppelt gezählt worden sein. Eigentlich wollten die Mitglieder des Beirats die Religionszugehörigkeit nicht aufnehmen, um antiislamische Propaganda nicht zu fördern. Doch das Ministerium habe darauf bestanden. Nun fühlen sie sich "hinters Licht geführt": "Dass ausgerechnet die Auftraggeberin der Studie verzerrende Interpretationen wichtiger Befunde in der Öffentlichkeit verbreitet, ist für alle Beteiligten mehr als bedauerlich."
Bereits als Extremismusbeauftragte der Union hat Schröder gefordert, "den politischen Islam genauso zu bekämpfen wie den Terrorismus". 2010 sagte sie: "Es gibt eine gewaltverherrlichende Machokultur bei einigen jungen Muslimen, die auch kulturelle Wurzeln hat." Statistisch belegen konnte sie diese These nicht.
Ab Ende 2012 soll deutschlandweit ein Hilfetelefon den Betroffenen Unterstützung bieten. Zusätzlich will die deutsche Bundesregierung enger mit Schulen zusammenarbeiten und den Blick der Lehrer schärfen. Bisher komme der Verdacht auf Zwangsverheiratung oft zu spät auf.
Immerhin gibt es in Deutschland bereits Notwohnungen für durch Zwangsheirat bedrohte Frauen. Solche Unterkünfte mit permanenter Betreuung bräuchte es bundesweit auch in Österreich, betont Gül Ayse Basari. Erwachsene Frauen kommen zurzeit in das Frauenhaus, minderjährige ins Krisenzentrum, jedoch nicht anonymisiert, weshalb sie für ihre Eltern leicht auffindbar sind.