Forscherwelt ist tief gespalten, ob es sich um Leichentuch Jesu handelt. | Dass es, laut Test von 1988, erst im Mittelalter entstanden ist, wird heute vielfach angezweifelt. | Wien. Schon über 1,3 Millionen Pilger haben sich angemeldet, um heuer die berühmteste und umstrittenste Ikone oder Reliquie (siehe Wissen) der katholischen Christenheit in Augenschein zu nehmen. Das Turiner Grabtuch ("La Santa Sindone"), das von Gläubigen als Leichentuch von Jesus Christus verehrt wird, ist von 10. April bis 23. Mai erstmals seit zehn Jahren wieder öffentlich im Turiner Dom ausgestellt. Schon am 10. April startet eine Pilgergruppe aus Wien mit Kardinal Christoph Schönborn an der Spitze nach Turin, am 2. Mai folgt Papst Benedikt XVI.
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Das etwa 4,36 mal 1,10 Meter große Leinentuch zeigt den Abdruck eines bärtigen Mannes, dessen Körper alle in der Bibel beschriebenen Verletzungen (Geißelung, Dornenkrone, Lanzenstich) des gekreuzigten Jesus Christus aufweist. Seit es am 28. Mai 1898 von dem Turiner Anwalt Secondo Pia erstmals fotografiert wurde und auf dem Fotonegativ das Bild des Gekreuzigten viel deutlicher als im Original hervortrat, nimmt der Gelehrtenstreit, ob es sich wirklich um das Grabtuch Jesu handeln könnte, nicht ab. Daran konnte auch ein wissenschaftlicher Radiokarbontest im Jahr 1988, der als wahrscheinlichsten Entstehungszeitraum des Tuches den Zeitraum zwischen 1260 und 1390 ergab, nachhaltig nichts ändern. Befürworter der Echtheit des Tuches werden nicht müde, dieses Testergebnis anzuzweifeln.
Diese Forscher führen die aus ihrer Sicht falsche Datierung auf Verunreinigungen des Tuchs durch Pilze und Mikroben, Brandspuren und Löschwasser oder schlicht Probenentnahmen an den falschen Stellen des Tuches zurück. Nach einem Brand 1532 hatten nämlich Nonnen etwa 30 Flicken über angeschwärzte Stellen des Tuches genäht, Flicken, die bei im Juli 2002 abgeschlossenen Restaurierungsarbeiten wieder entfernt wurden. Damit sei "das Leichentuch dem Original wieder ähnlicher geworden", sagte damals Giuseppe Ghiberti, Präsident der für die Restaurierung zuständigen Kommission.
Ziemlich genialer Fälscher
Verbürgt ist, dass das Grabtuch erstmals 1357 in der neuen Stiftskirche von Lirey bei Troyes der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Dieser Umstand und der überlieferte Brief eines Bischofs aus dem späten 14. Jahrhundert, er wisse, dass es sich um eine Fälschung aus Habgier und Gewinnsucht und nicht um das echte Grabtuch Christi handle, stützen die Datierung des Radiokarbontests.
Wenn hier aber keine echte Reliquie, auch nicht eine fromme Ikone, sondern ein damals gut verkäufliches Machwerk vorliegt - es ist kein Geheimnis, wie schwungvoll im Spätmittelalter mit unechten Reliquien gehandelt wurde -, muss, so wie das Grabtuch beschaffen ist, ein für seine Zeit ziemlich genialer Fälscher am Werk gewesen sein. Leonardo da Vinci, auf den einzelne tippen, war es sicher nicht: Er wurde erst 1452 geboren.
Schon die Frage, wie überhaupt ein solcher Abdruck auf dem Tuch entstehen konnte, entzweit die Forscher. Die Wirkung, die das Fotonegativ von 1898 auslöste, hätte im Mittelalter kaum jemand vorhersehen können. Einem Fälscher wäre das damals wahrscheinlich auch egal gewesen, aber welcher Technik hätte er sich bedient?
Vor allem der Kunsthistoriker Nicolas Allen vermutet, es sei eine fotografieähnliche Methode verwendet worden. Er wies nach, dass man schon damals auf mit Silbernitratlösung getränkten Tüchern bei mehrtägiger Belichtungszeit Bilder von Statuen erzeugen hätte können.
Andere Experten vermuten, dass mit einem Kontaktabdruck gearbeitet wurde. Dabei wäre der Körper, auf den Pulver oder Farbpigmente aufgebracht waren, in das Tuch gehüllt gewesen, und an den Stellen mit direktem Kontakt wäre eine bestimmte Verfärbung entstanden. 2005 meldeten französische Wissenschafter, sie hätten ein gefälschtes Grabtuch zustande gebracht, indem sie ein feuchtes Leinentuch über ein Relief mit der Darstellung eines bärtigen Mannes gelegt hätten.
Befürworter der Echtheit des Grabtuchs führen aber noch andere Indizien ins Treffen, die ein damaliger Fälscher kaum hätte erzeugen können. Der italienische Gerichtsmediziner Pierluigi Baima Bollone wies darauf hin, auf Farbfotos des Turiner Gesichtes seien Spuren von zwei Münzen aus der Zeit von Pontius Pilatus zu erkennen. Die Schweizer Textilforscherin Mechtild Flury-Lemberg sagte, an Hand von Gewebefunden in der Festung Massada am Toten Meer lasse sich die Gewebestruktur und Verarbeitung des Tuches für den Zeitraum 40 vor bis 74 nach Christus belegen.
Einzigartige Pollen aus Israel
Für den italienischen Chirurgen Nicolo Cinquemani enthüllt das Grabtuch, warum Jesus, wie die Bibel berichtet, schneller als die neben ihm gekreuzigten Verbrecher starb: Der Tote im Grabtuch musste sich kurz vor der Kreuzigung, vielleicht bei einem Sturz, schwer verletzt haben, sodass eine Blutung im Brustraum eintrat, weshalb Jesus nicht wie andere Gekreuzigte durch langsames Ersticken starb. Behauptungen, man habe auf dem Tuch Spuren der Blutgruppe AB entdeckt, die erst ab dem Mittelalter verbreitet gewesen sein soll, wurden bisher nicht bestätigt.
Für die Echtheit des Tuches wird auch immer wieder ins Treffen geführt, dass Fachleute darauf zahlreiche Spuren von Pollen entdecken konnten, die zum Teil nur in Israel und Kleinasien vorkommen, und zwar an jenen Orten, an denen sich nach Meinung der Echtheitsbefürworter das Tuch auf seinem Weg nach Europa befunden hat. Nachzulesen ist das in dem aktuellen Buch "Das Grabtuch von Turin" von Paul Badde (Pattloch Verlag). Skeptiker halten es freilich für möglich, dass solche Pollen erst in moderner Zeit auf das Tuch praktiziert wurden.
Wenn das Tuch tatsächlich aus der Zeit Christi stammte, so kam es vermutlich durch einen Tempelritter nach Frankreich. Später besaß es das Haus Savoyen, heute gehört es dem Heiligen Stuhl.
Es gibt noch weitere Ikonen, die angeblich mit Jesus in Berührung kamen. Dreimal im Jahr wird in Spanien in der Kathedrale von Oviedo das Schweißtuch (Santo Sudario) gezeigt, das angeblich nach dem Tod Jesu um dessen Kopf gewickelt war. Laut Radiokarbontest stammt es aus dem 7. Jahrhundert, in dieser Zeit ist es dort auch erstmals aufgetaucht.
Als wesentlich interessanter gilt der Schleier von Manoppello (Volto Santo), einem kleinen Städtchen in den Abruzzen. Dieses noch wenig erforschte Objekt aus kostbarer hauchdünner Muschelseide zeigt ein Gesicht, das große Ähnlichkeit mit dem Abdruck auf dem Turiner Grabtuch aufweist. Der römische Kunsthistoriker Heinrich Pfeiffer und andere Experten halten dieses Tuch für das "Schweißtuch der Veronika", einst eine der wichtigsten Reliquien der Christenheit, die seit 708 in Rom bezeugt war und im 16. Jahrhundert aus dem Petersdom verschwand.
Der Legende nach ist Christus auf seinem Kreuzweg - so stellt es auch eine Kreuzwegstation dar - von einer Frau namens Veronika oder Berenike ein solches Tuch gereicht worden. Das Tuch ist seit 1638 in Manoppello nachweisbar, nach örtlicher Überlieferung gelangte es aber bereits 1506 durch einen Unbekannten dorthin. Zur 500-Jahr-Feier im Jahr 2006 reiste auch Papst Benedikt XVI. an, vermied aber den Begriff "Reliquie" und sprach nur von "Ikone".
Der Streit der Gläubigen und Ungläubigen, zum Teil auch jener der Gelehrten, ob derartige Ikonen echt sind oder nicht, wird zwar mit großer Heftigkeit geführt, doch die Frage, wie berechtigt der christliche Glaube an die Auferstehung ist, wird damit allein sicher nicht entschieden.
Wissen: Reliquien und IkonenReliquien (vom lateinischen Wort für Überreste) sind Objekte religiöser Verehrung, die sich vor allem im orthodoxen und katholischen Christentum, im japanischen Shinto und im Buddhismus, aber auch im schiitischen Islam finden, nicht aber im Protestantismus oder im sunnitischen Islam. Meist sind Reliquien Körperteile eines Heiligen oder Gegenstände aus dessen persönlichem Besitz, die in Altäre von katholischen oder in die Mauern orthodoxer Kirchen eingelassen wurden.
Eine Sonderform stellen sogenannte Berührungsreliquien dar, das sind zum Beispiel Stoffe, mit denen der Heilige in Berührung kam. Wäre das Turiner Grabtuch nachweislich echt, wäre es (was es für viele Gläubige bereits ist) eine Reliquie, offiziell stuft es die katholische Kirche aber derzeit als Ikone ein.
Bei Ikonen (vom griechischen Begriff für Bilder) handelt es sich ursprünglich um religiöse Bilder, vorwiegend im Bereich der christlichen Ostkirchen, für deren Theologie und Spiritualität sie große Bedeutung besitzen. Sie sind kirchlich geweiht, sollen
Ehrfurcht wecken und die Beziehung zwischen dem Betrachter und Gott vertiefen. Im modernen Sprachgebrauch werden auch Kunstwerke, Personen oder erfundene Gestalten, die einen legendären Ruf erworben haben, als Ikonen bezeichnet.