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Renaissance der Innovationskultur

Von Holger Rust

Reflexionen
Gegenentwurf zu Machiavelli: Baldassare Castiglione (hier im Porträt von Raffael).
© Wikimedia Commons

Baldassare Castiglione lieferte mit seinem Werk "Il Libro del Cortegiano" im Jahr 1528 ein frühes Zeugnis der wirtschaftskulturellen Geistesgeschichte. Seine Ideen des offenen Diskurses gelten bis heute.


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Man redet derzeit viel von den neuen Machiavellisten, in der Politik und vor allem in den Elite-Etagen der Unternehmen. Das ist meist nicht einmal kritisch gemeint, eher bewundernd: Denn immerhin, sie scheinen erfolgreich. Und die Zahl der Bücher und Traktate, die im Windschatten dieser Idee mitlaufen, steigt. Niccolò Machiavelli ist mit seinem 1513 erschienenen Werk "Il Principe" und seiner utilitaristischen Nutzwert-Philosophie wieder schwer angesagt.

Nun ist es aber gleichzeitig so, dass das Unbehagen an dieser Art von egomanischer Selbstbezüglichkeit (die ja selbst dem Renaissance-Autor nicht gerecht wird) wächst. Und wir wissen ziemlich genau, dass die meisten Nachwuchskräfte gerne ganz anders werden möchten, sich allerdings oft dem Zeitgeist unterwerfen oder einem System ausweichen, das sie nicht mittragen wollen.

Was die meisten sich wünschen, sind charismatische Personen, die etwas unerklärlich Faszinierendes an sich haben, geprägt durch ruhige und unaffektierte Virtuosität, natürliche Anmut und irgendwie mühelos erscheinende Eleganz im Auftreten und in ihren Entscheidungen; die, wie der Bildungstheoretiker und Germanist Gerhart von Graevenitz 2005 in einer Festrede für die Universität Sankt Gallen formulierte: "eine schlafwandlerisch sichere Handlungskompetenz" zeigen.

Ein Weltbestseller

Von Graevenitz bezog sich mit dieser Formulierung auch auf ein Buch aus der Renaissance, genauer gesagt aus dem Jahr 1528. Autor war Baldassare Castiglione, der im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert als Diplomat und Berater an den Fürstenhöfen der Gonzaga und der Montefeltro diente. Das Buch ist eines der kaum gelesenen, dennoch aber bekanntesten Werke der Weltliteratur: "Il Libro del Cortegiano". In ihm wiederum wird einer der meist gebrauchten, gleichzeitig oft gründlich missverstandenen Begriffe geprägt, der, wenn man ihn in eine beliebige Suchmaschine eingibt, heute noch zweieinhalb Millionen Treffer zeitigt: Sprezzatura.

Castiglione hatte mehr als zwei Jahrzehnte an diesem Werk gearbeitet. "Il Libro del Cortegiano" bietet nicht nur einen bemerkenswerten wirtschaftsethischen Gegenentwurf zu Machiavelli, sondern richtet sich auch an eine weit größere Gruppe von Interessenten. Er spricht, um ein modernes Wort zu gebrauchen, die Mitglieder der Kompetenzteams ihrer "Fürsten" an. Wie sie, diese wichtigen Vertreter der nachgeordneten Führungsebenen, beschaffen sein sollen, was also den idealen Cortegiano ausmache, war das Ziel des halb fiktionalen, halb authentischen Buches. Das ist ungewöhnlich und selten und stellt ein erstes bemerkenswertes Motiv dieses frühen Zeugnisses der wirtschaftskulturellen Geistesgeschichte dar.

"Il Libro del Cortegiano" ist ein Weltbestseller, auch nach heutigen Kriterien eines zahlenmäßig begründeten Rankings, und hat sicher seit dem Erscheinen eine Million Leserinnen und Leser erreicht. Das Werk wird als bibliophile Rarität in italienischen Ausgaben des 16. Jahrhunderts gelegentlich mit Preisen ab 2000 Euro angeboten. Es ist also ein wertvolles Buch, in kommerzieller wie in philosophischer Hinsicht, eine Art Weltkulturerbe, allerdings trotz seiner Verbreitung heute hauptsächlich bekannt durch eben diesen einen Begriff, Sprezzatura, der die Jahrhunderte überdauerte und dem man die schillerndsten Bedeutungsfacetten eingravierte. Es ist schon erstaunlich, durch welche thematischen Labyrinthe die Recherche nach seiner Bedeutung führt - durch Politik und Wirtschaft, Film, Musik, Mode und Lebensstil.

Der Aufbau von Castigliones Buch selbst ist simpel: Es beschreibt vier Abende im Jahre 1507, an denen eine Folge von launigen Gesprächen stattfindet. In diesen Gesprächen treffen Besucher, die anlässlich der Durchreise und einer Rast des Papstes in diesem Ort weilen: eine Schar von Edelleuten, Künstlern, Intellektuellen "und unterhaltsamen Männern jeder Art, und die ausgezeichnetsten Vertreter jeden Berufs (. . .) aus ganz Italien". In diesen Gesprächen entspinnt sich eine Art kleine Alltagsutopie des humanistischen Handelns, das elegant und gelassen, formvollendet und lässig gleichermaßen ist. Urbino ist der Ort, der für diese Utopie steht.

In Urbino also, in der Sala delle Veglie (der "Halle der Nachtwachen") des Palazzo Ducale, inszeniert er das Gespräch, fiktiv zwar, aber mit authentischen Personen und vermutlich als Kompilation vieler Gespräche, die tatsächlich regelmäßig stattgefunden haben. Die "Aufzeichnung" ist, wie gesagt, erst zwei Jahrzehnte später erschienen, wohl nicht zuletzt auch als Versuch, in einer Zeit unablässiger Krisen und Kriege einen Weg zu finden, der Zerstörung kultureller Werte entgegenzuwirken und den Charakter zu umreißen, der dieser Aufgabe gewachsen und würdig ist. Wissen statt Kriegskunst, Diskurs statt Streit, Abwägung statt Intrige. Castiglione berichtet, dass nicht von vorneherein festgelegt war, auf welche Weise diese Abende gestaltet würden.

Für Nachwuchskräfte

Es war wohl so, "dass alle Edelleute des Hofs die Gewohnheit hatten, sich sofort nach dem Nachtessen zur Herzogin zu begeben, wo neben den täglichen Vergnügungen mit Musik und Tanz oft ergötzliche Fragen aufgeworfen, oft auch, je nach dem Vorschlag des einen oder des andern, witzige Spiele veranstaltet wurden".

Nach einer Reihe von Vorschlägen, etwa Sonette über die Bedeutung des Buchstabens S zu erfinden, schlägt Federico Fregoso (ein Enkel des berühmten Fürsten Federico da Montefeltro) vor, "dass wir uns heute an des Spieles statt in der Weise vergnügten, dass wir einen aus der Gesellschaft auserwählen, dessen Amt es sein soll, uns in seiner Rede einen vollkommenen Hofmann vorzuführen (. . .) Bei dieser Erörterung soll einem jeden jedweder Widerspruch erlaubt sein wie in den Schulen der Philosophen".

Man mag auch dies als einen versteckten kritischen Hinweis auf die Belanglosigkeit sehen, von der viele dieser Soireen geprägt waren (und viele Assessment-Center und Klausurtagungen heute noch geprägt sind). Das Gespräch im Sinne Fregosos sollte sich indes als über die Jahrhunderte hinausreichende, tiefergehende und weit wirksamere Beschäftigung erweisen als die irgendwie kindischen Spielchen, von denen heute wohl niemand mehr reden würde.

Soeben erschienen: Holger Rusts Plädoyer für eine inspirierende, ganzheitliche Eleganz, für "Sprezzatura statt Machiavelli". Springer, Berlin 2018, 158 Seiten, 19,99 Euro.

Wichtig für die spätere Rezeption dieses Werkes ist der Hinweis, dass "Il Libro del Cortegiano" kein Buch über alte Männer und ihre Weisheiten darstellt. Da die Personen authentisch sind, lässt sich auch ihr Alter zum Zeitpunkt des Gespräches bestimmen: Fregoso zum Beispiel war 27 Jahre alt, Ludovico Gonzaga, der am ersten Abend das Wort "Sprezzatura" ins Gespräch einführt, 33.

Sie alle machten später bemerkenswerte Karrieren. So ist Castigliones Buch durchaus als Lektüre für Nachwuchskräfte geeignet, und das keineswegs nur für männliche: Denn die ebenso kluge wie autoritative Gesprächsführung überantwortet der Autor der Gattin des 1507 in Urbino regierenden Fürsten Guidobaldo da Montefeltro (Sohn des Federico), der Fürstin Elisabetta Gonzaga, und ihrer Schwägerin Emilia Pia.

Castiglione gerät bei der Schilderung der beiden Damen, insbesondere der Fürstin, in Schwärmerei: ihrer Anmut, vor allem aber ihrer Autorität wegen, die von allen rückhaltlos anerkannt wird. "Und da sie so der ganzen Gesellschaft zum Vorbild wurde, hatte es den Anschein, als ob sich alle äußerlich und innerlich nach ihr stimmten; und jeder bemühte sich, ihr nachzueifern und ihre schönen Sitten gleich einer Richtschnur in Gegenwart so vornehmer Damen selbst anzunehmen."

Zeitloser Terminus

Diese Bemerkung ist ein eleganter rhetorischer Schachzug Castigliones. Das Thema, das sich ganz allmählich im Diskurs entfalten wird und im Austausch von Argumenten und Beispielen Gestalt annimmt - das Porträt des perfekten Hofmannes nämlich -, ist damit skizziert, inkorporiert in der weiblichen Umsetzung der edelsten Charakterzüge männlicher Cortegiani, im Motiv des Austausches und der wechselseitigen Achtung.

"Da es hier nicht in meinem Plan liegt", schreibt Castiglione, versuche ich hier nicht, ihre hervorragendsten Eigenschaften aufzuzählen (. . .), um so den Beweise zu liefern, dass in der zarten Brust einer Dame von einziger Schönheit Klugheit und Tapferkeit bestehen können und alle andern Tugenden, die kaum bei ernsten Männern zu finden sind." Das steht in einem Buch, man muss es sich noch einmal vergegenwärtigen, mit dem Erscheinungsdatum 1528!

Der "Hofmann", wie dieses Buch seit Jahrhunderten genannt wird, bietet mit all seinen Motiven und versteckten Hinweisen eine professionelle Anregung zu dieser Idee des offenen Diskurses aller Geister und ein intellektuelles Freizeitvergnügen gleichermaßen. All das verdichtet sich in eben jenem zeitlosen und heute weltweit immer noch und fast inflationär gebrauchten Terminus "Sprezzatura" als "universalissima regula", wie ihr Urheber es nannte.

In Albert Wesselskis Übersetzung der deutschen Ausgabe von 1907 (bei Wagenbach noch einmal neu aufgelegt, leider auch schon vergriffen) heißt es: Man solle "jede Ziererei gleich einer spitzigen und gefährlichen Klippe vermeiden und, um eine neue Wendung zu gebrauchen, eine gewisse Nachlässigkeit zur Schau tragen, die die angewandte Mühe verbirgt und alles, was man tut und spricht, als ohne die geringste Kunst und gleichsam absichtslos hervorgebracht erscheinen lässt".

Diese Textstelle hat in den vergangenen fünf Jahrhunderten vor allem in den europäischen Regionen ungezählte Interpreten inspiriert. Sie sollte es weiterhin tun, um unsere Interessen und Kompetenzen, unseren Stil und die Persönlichkeit vor den Zumutungen der kurzfristigen Ertragsorientierung und ihrer machtvollen und mitunter stillosen Protagonisten zu retten - für eine lebendige Innovationskultur und eine inspirierende, ganzheitliche Eleganz.

Holger Rust, geboren 1946, ist Publizist und Professor für Soziologie in Hannover und ständiger Glossist im "extra".