Gedanken zur Debatte über "christlichsozial" versus "konservativ".
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Gibt es derzeit eine Chance, die politische Beliebigkeit durch schon tot geglaubte unterschiedliche Werte und ihre gesellschaftspolitischen Folgerungen zu ersetzen und damit Politik wieder interessanter, ideenreicher und bunter zu gestalten?
Ausgangspunkt für diese Überlegung ist die jüngst medial aufgeflammte, aber bisher wenig profunde Diskussion um "christlichsozial" versus "konservativ", oder so ähnlich. Das kann aber eine Chance bedeuten, in der öffentlichen Diskussion endlich wieder wertorientierte, seriös ausgeleuchtete politische Grundüberzeugungen von geschulten oder wertmäßig überzeugten Politikern dem Souverän, dem Bürger in verständlicher Sprache zu präsentieren. Die Freiheitlichen Österreichs sind da eine Ausnahme, sie wissen was sie tun - und Bundeskanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz moderiert mangels eigener Grundsatzposition diese freiheitlichen Positionen, womöglich ohne die längerfristigen Konsequenzen dieser Maßnahmen abschätzen zu können. Wichtig ist der Erfolg bei den nächsten Wahlen. Punkt!
Seine Aussage, er sei christlichsozial, aber "es gibt niemanden, der das Recht hat, zu definieren, was christlichsozial ist" (wie er in der "Wiener Zeitung" zitiert wurde), ist erschreckend entlarvend. Es darf daran erinnert werden, dass er vor nicht allzu langer Zeit Präsident der Politischen Akademie der ÖVP war - und somit ein Nachfolger von Karl Pisa, Alfred Maleta und Ludwig Steiner.
Christliches Menschenbild ist auch von Nichtchristen lebbar
Natürlich können das christliche Menschenbild und damit die christlichsoziale Weltanschauung definiert sowie darauf aufbauend konkrete politische Problemstellungen gespiegelt und in Diskussion gestellt werden. Das christliche Menschenbild ist auch von Nichtchristen lebbar, so sie dessen Grundideen als die Ihren ansehen. Wenn wir von der Bibel ausgehen, so sind alle Menschen - egal welcher Herkunft, welcher Hautfarbe, welchen Standes - Kinder Gottes, somit in ihrer jeweiligen Unvollkommenheit, aber jeweils gleichen Würde jeweils unterschiedliche Abbilder Gottes und damit des Vollkommenen. Der Auftrag jedes Christen in seinem irdischen Dasein ist, sich im Lauf des Lebens zu vervollkommnen, Gott ähnlicher zu werden. Wie geschieht das? Durch Kommunikation mit den Mitmenschen, durch Bildung, durch Arbeit, durch das Sammeln praktischer Lebenserfahrung, schließlich durch das Erkennen und Verstehen der Unterschiede zu anderen und deren spezifischen Bedingtheiten.
Das heißt, dass das christliche Menschenbild ein offenes gegenüber den Mitmenschen, der Umwelt im engeren wie im weiteren Sinn ist: "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!" Auch die moderne Psychologie bestätigt, dass zur Entwicklung der Persönlichkeit der permanente Dialog mit den Mitmenschen, die emotionale wie geistige Auseinandersetzung mit der jeweiligen Umwelt gehört. Daraus leitet sich eine grundsätzliche Solidarität zu prinzipiell jedem Menschen, im Zeitalter der Globalisierung somit prinzipielle Solidarität mit den Problemen der Menschen unseres Erdballs, mit der Umwelt, mit dem Leid von Mensch und Kreatur, mit den Problemen der Natur. Jesus hat auch gemeint: "Was Du dem Geringsten Deiner Nächsten tust, hast Du mir getan."
Aus diesen Prinzipien der christlich orientierten Soziallehre lässt sich Politik für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ableiten. Einer der Väter der ersten Sozialenzyklika, "Rerum novarum", 1891 von Papst Leo XIII. herausgegeben, war Karl von Vogelsang. Er hat auch noch einen wichtigen Aspekt in der sozialen Frage der geschundenen Industriearbeiter des 19. Jahrhunderts folgendermaßen formuliert: Der Proletarier muss aus seiner Situation herausgeholt und ihm die menschliche Würde wieder gegeben werden durch Bildung und Eigentum in Arbeiterhand. Die "Proletarier" von heute sind Immigranten, Flüchtlinge, Menschen aus und in sogenannten Entwicklungsländern.
Das christliche Menschenbild - und damit die darauf beruhende Soziallehre - unterscheidet sich idealtypisch vollkommen von allen übrigen politischen Ideen und Ideologien. Idealtypisch heißt aber auch, dass es im politischen Alltag nie in Reinform vertreten ist. Nationalismus, Chauvinismus und Faschismus in allen Varianten sowie andererseits der evolutionäre wie revolutionäre Sozialismus (Kommunismus) leiten sich in ihrem jeweiligen idealtypischen Menschenbild vom politischen Liberalismus ab. Dieser ist absolut nicht mit einer liberalen Lebenseinstellung zu verwechseln.
Ein Individuum, das Interessen durchzusetzen versucht
Das Menschenbild des Liberalen ist ein in sich geschlossenes Individuum, das bestimmte Interessen hat, die es gegenüber anderen durchzusetzen beziehungsweise umzusetzen versucht. Da kann es prinzipiell keine Solidarität geben. Im Nationalismus mit allen seinen Varianten ist die Nation das Individuum (siehe Benito Mussolini). Der einzelne Bürger ist nur Teil dieses Individuums und hat nur Wert, wenn er sich den Interessen des Individuums unterordnet, sonst muss er ausgeschlossen oder gar eliminiert werden. Und dieses Individuum namens Nation hat ebenso Interessen, die es gegenüber anderen Nationen durchzusetzen versucht - evolutionär oder revolutionär. Solidarität gibt es nur gegenüber den eigenen "Volksgenossen". Innere und äußere Feinde - muslimische Flüchtlinge, die nicht hierher passen, oder "Wirtschaftsflüchtlinge", die uns etwas wegnehmen und in unser Sozialsystem flüchten wollen - sind natürlich für den Prozess der Solidarisierung sehr wichtig.
Im Sozialismus ist die jeweilige soziale Klasse idealtypisch das Individuum, das seine Interessen gegenüber den anderen sozialen Klassen durchsetzen will, also etwa die Arbeiterklasse gegenüber der Bourgeoisie. Der einzelne Genosse hat auch nur Wert, wenn er sich den Interessen des Individuums, also der Partei, unterordnet. Man erinnere sich hier an den legendären Satz in der Parteitagsrede von Fred Sinowatz nach seiner Wahl zum SPÖ-Chef: "Der Partei verdanke ich alles, ohne die Partei bin ich nichts." Solidarität gibt es nur unter den Genossen und jenen, die dazugerechnet werden. Der Klassenfeind ist zu bekämpfen durch "Expropriation der Expropriateure" - also durch Enteignung der Enteigner.
Nach außen hin gleich, aber je nach Partei unterschiedlich
In den 1970er Jahren kam bei den Eurokommunisten, und dann auch bei manchen westeuropäischen Sozialisten wie den österreichischen, der unter Mussolini ums Leben gekommene Politiker Antonio Gramcsi zum Zug. Er hatte gemeint, dass in hochentwickelten Gesellschaften der Sozialismus nur durch die Kulturhegemonie der Arbeiterschaft (Partei) erreichbar sei. Das heißt: Hegemonie müsse in allen kulturell interessanten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens erreicht werden. So im Sport, in den Medien, in der Bürokratie, im Theater, in den verschiedensten Kunstrichtungen etc. Bruno Kreiskys Politik ging sehr stark in diese Richtung und hat nachhaltig gewirkt. Jetzt ist es damit zu einem beachtlichen Teil vorbei.
Mit Blick auf das politische 20. Jahrhundert und die ersten
18 Jahre des 21. Jahrhunderts schimmern die Grundmuster dieser idealtypischen Menschenbilder durch und haben mittel- und längerfristige Folgen. Eine zumindest nach außen hin gleich aussehende politische Maßnahme kann von unterschiedlichen Parteien realisiert komplett unterschiedliche Auswirkungen haben.