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Respekt vor der Heilkunst

Von Peter Markl

Wissen

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Es kann für die Karriere eines Wissenschafters entscheidend sein, in der englischen "Nature", einer der beiden weltweit führenden Wissenschaftszeitschriften, einen Artikel publiziert zu haben. 90 Prozent der eingereichten Artikel werden von dem strengen Gutachtergremium abgelehnt, viele schaffen es nicht einmal bis in dieses Gremium.

Ende Dezember letzten Jahres überraschte die "Nature" ihr weltweites Publikum mit einer ihrer berühmten Beilagen, in denen die besten der dafür zu gewinnenden Experten einen Ausblick auf die weitere Entwicklung eines heißen Themas geben: Zum Jahresende sollte es - abweichend von den üblicherweise zur Diskussion gestellten Problemen - um die Zukunft der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) gehen.

Alternative Heilverfahren sind allemal ein heißes Thema - und die Meinungen der naturwissenschaftlichen Medizin dazu wären das erst recht. Eine differenzierte Diskussion darüber auf dem Niveau und mit der Autorität von "Nature" wäre also ein hilfreicher Beitrag gewesen. Vor allem, weil selbst medizinisch kenntnisreiche Anhänger mancher dieser Heilverfahren an einer rational abwägenden Diskussion weniger interessiert sind als an einer Bestätigung ihrer mit der Intensität von Sektenanhängern vorgebrachten Ansichten, die sie meist in eine extensive, unkritische Erörterung des weltanschaulichen Hintergrunds, den sie mit Putz und Stängel akzeptieren, einbetten.

Die Frage der Kriterien

Doch eine umfassend bewertende Diskussion schien anscheinend selbst den "Nature"-Redakteuren zu anspruchsvoll. Sie zielten darauf ab, ihren Lesern einige Fakten zum Umgang des heutigen China mit TCM anzubieten, schon weil diese oft in den ideologischen Diskussionen unterzugehen drohen. Dabei gibt es heute auf die Bewertung medizinischer Untersuchungen spezialisierte Institutionen und Fachleute auf dem Gebiet der sogenannten evidenzbasierten Medizin. Dazu hat man sich auf einen Kanon von Beurteilungskriterien und die Methoden zur Ermittlung der relevanten Kennwerte geeinigt.

Doch gerade auf dem Gebiet der TCM ist das auch heute noch schwierig, da das Spektrum der Verfahren so vielfältig ist wie die unterschiedlichen Herangehensweisen - schließlich geht es um so verschiedenartige Methoden wie Akupunktur, Akupressur, Ayurveda, Meditation, Qigong, Reiki, Shiatsu, Yoga und Taichi.

Das Hauptproblem mit diesen Verfahren, in denen sich riesiges, durch jahrtausendelanges empirisches Herangehen mittels Versuch und Irrtum erarbeitetes medizinisches Wissen niedergeschlagen hat, ist, dass man ihnen einen spirituellen Überbau verpasst hat: Zentrale Begriffe, auch wenn sie Begriffen der heutigen Naturwissenschaften zum Verwechseln ähnlich sehen, haben hier eine ganz andere Bedeutung. Das Paradebeispiel dafür ist Qi, das ein des Chinesischen unkundiger, französischer Diplomat namens George Soulié de Morant, leider ein Betrüger und Hochstapler, beim verhängnisvoll effektiven Transfer seines Halbwissens über Akupunktur in den Westen als "Energie" übersetzt hat. Die spirituelle Einkleidung des alten Wissens erweist sich auch heute noch als Hemmnis für eine ernsthafte kritische Prüfung der Wirksamkeit der Heilverfahren, wie sie nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin notwendig ist.

Gottseidank hat sich Edzard Ernst, der erste Universitätsprofessor der Welt für komplementäre Medizin, einer der besten Kenner der traditionellen asiatischen Medizin und Experte für evidenzbasierte Medizin, 2011 auf dieses intellektuelle Schlachtfeld begeben und zusammen mit Thomas Bißwanger-Heim einen Bericht geschrieben, der den heutigen Stand der Diskussion resümiert.

"Nature" dagegen hat sich auf dieses Vorhaben nicht eingelassen, sondern sich auf das Gebiet beschränkt, bei dem eine Beurteilung nach "westlichen Kriterien" noch am ehesten möglich ist: nämlich der chinesischen Kräutermedizin. Sie hat sich mittlerweile zu einem Gebiet ausgewachsen, auf dem Milliarden-Umsätze erzielt werden. (2010 exportierte China fast zwei Milliarden US-Dollar an TCM-Produkten nach Europa.) Für "Nature" war diese enorme wirtschaftliche Bedeutung der chinesischen Kräutermedizin der Grund, sich in der Beilage darauf zu konzentrieren.

Traditionelle asiatische Medizin - Homöopathie gehört als genuin europäische wissenschaftliche Abstrusität natürlich nicht dazu - steht heute weltweit auf einem vorher nie dagewesenen Gipfel der Popularität, wofür man oft die Erklärung hört, dass alternative Mediziner sich für ihre Patienten mehr Zeit nähmen. Besonders im Westen arbeitende ayurvedische Mediziner gehen oft sehr viel mehr auf die Lebensumstände ihrer Patienten ein als heutige Schulmediziner.

Bißwanger-Heim und Ernst schreiben jedoch in ihrem bewundernswert klaren und facettenreichen Buch: "Für jemanden, der glaubt, asiatische Heilkunde wäre eine Medizin des Dialogs und den psychischen und sozialen Dimensionen der Patienten würde besonders große Beachtung geschenkt, mag es irritiert sein, wenn er erfährt, dass sich indische Ayurveda-Ärzte viel weniger Zeit für Gespräche mit dem Patienten nehmen als deutsche und dass viele Patienten einen Arzt besonders hoch schätzen, der die Diagnose ganz ohne Worte, etwa nur an Hand des Pulses, trifft."

Der Arzt als Künstler

Dieselben Autoren zitieren auch den amerikanischen Harvard Professor Ted Kapchuk, nach fünf Jahren Forschungsaufenthalt in China Dozent für Orientalische Medizin und stellvertretender Direktor des Zentrums zur Erforschung der alternativen Medizin. Er ist spezialisiert auf den Placebo-Effekt und ist sich der Reichweite und Grenzen dieses Effekts natürlich sehr bewusst. Kapchuk erklärt die Erfolge der traditionellen chinesischen Ärzte damit, dass sie im Lauf jahrzehntelanger Praxis ein ungewöhnlich verfeinertes Wahrnehmungsvermögen für vom Patienten ausgehende Signale entwickelt hätten. Er vergleicht sie mit Künstlern: "Der wirklich fähige chinesische Maler, Poet, Kalligraph oder Schwertmeister ist ein Meister des unfehlbaren Strichs der Wahrnehmung". Wahrscheinlich kann das aber auch von den legendären westlichen Internisten behauptet werden.

Bißwanger-Heim und Ernst zitieren allerdings auch eine gar nicht spirituelle Weisheit von Eugen Roth:

"Der Kranke traut nur widerwillig / dem Arzt, der’s schmerzlos macht und billig.Lasst nie den alten Grundsatz rosten: / Es muss a) wehtun; b) was kosten."

Man hat den Eindruck, dass manche alternativ praktizierende Mediziner inmitten all ihres oft lautstarken ganzheitlichen Gehabens auch diese analytische Einsicht beherzigen.

Kenner der heutigen indischen Situation konstatieren, dass auch dort die im alten Sinn außerordentlichen traditionellen Ärzte immer rarer werden, weil auch sie nicht ohne die erfolgreichen Diagnosetechniken der westlichen Medizin auskommen wollen.

"Nature" zitiert prominente chinesische Gelehrte, etwa Daing Zhang, Direktor des Zentrums für Geschichte der Medizin der Universität Beijing: "In der Praxis ist die traditionelle chinesische Medizin ein Prozess von Versuch und Irrtum und von Versuchen, die Wirkungsweisen der in der klassischen chinesischen Kräutermedizin angewandten Kräuter zu verstehen und zu lernen, ihre Qualität zu kontrollieren. Die philosophischen Theorien dazu wurden erst nachträglich geschaffen, um ein für die Praxis erklärendes theoretisches Gebäude zu errichten und das Vertrauen der Patienten zu gewinnen."

Und Boli Zhang, Präsident von Chinas Akademie der medizinischen Wissenschaften, merkt an: "Wir glauben an die klassischen Akupunktur-Meridiane oder Q- Energie-Leitbahnen, obwohl wir sie noch nicht gefunden haben".

Ähnlich gespalten ist die Einstellung der Medizinexperten zur Zeit überall auf der Welt. Es gibt eine weltweite Konvergenz zwischen TCM und Schulmedizin.

Edzard Ernst hat in seinem vorbildlichen Band ein Schlusskapitel beigesteuert, in dem er die einzelnen Verfahren der TCM nach den Prinzipien der evidenzbasierten Medizin im Hinblick auf die Beweislage zur therapeutischen Wirksamkeit für eine genau beschriebene Indikation und die mit ihrer Anwendung verbundenen Risiken in vier Kategorien eingeteilt, wozu er 2010 alle einschlägigen Untersuchungen in den Datenbanken aufgestöbert und ihre Qualität kritisch bewertet hat.

Nutzen und Risiken

Kategorie 1 umfasst Verfahren, deren therapeutische Wirksamkeit und Nutzen nachgewiesen werden konnten und deren Anwendung risikolos oder mit nur kleinen Risiken verbunden ist.

Kategorie 2 enthält die mit Einschränkungen geeigneten Verfahren, deren Wirksamkeit und Nutzen nachgewiesen sind, die aber nur mit deutlichen Risiken angewandt werden können.

Kategorie 3 bilden Verfahren, bei denen sowohl therapeutische Wirksamkeit als auch diagnostischer Nutzen für bestimmte Anwendungen nachgewiesen werden konnten, die aber bei der Anwendung ein deutliches Risiko oder ein Risiko nicht abschätzbarer Größe verursachen. Deshalb sind sie weniger gut geeignet.

Kategorie 4 wird von "nicht geeigneten Verfahren mit geringer Wirksamkeit, aber erheblichem Anwendungsrisiko" gebildet.

Alle diese Bewertungen, die mit Indikation und der Diskussion der Risiken angeführt werden, sind nur zeitgebundene Momentaufnahmen der Problemsituation, die oft durch das Fehlen relevanter, methodisch einwandfreier Daten charakterisiert ist. Bei vielen der Verfahren behaupten Anhänger, dass ihre Anwendung bei wesentlich mehr Indikationen vertretbar sei, als man bisher zeigen konnte. Am befriedigendsten ist die Datenlage bei der Akupunktur (Kategorie 1), die über den unvermeidlichen Placebo-Effekt hinaus wirksam ist.

Peter Markl unterrichtete an der Universität Wien Analytische Chemie und Methodik der Naturwissenschaften. Er ist Mitglied des Konrad Lorenz Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung und Mitglied des Kuratoriums des Europäischen Forums Alpbach.

Literatur:Traditional Asian Medicine: Nature Outlook. 22. December 2011, Vol. 480 (no 7378, S. 81 - 103)Thomas Bißwanger-Heim, Edzard Ernst: Asiatische Heilkunde. Tradition, Anwendung; Heilsversprechen. Eine Bestandsaufnahme. Stiftung Warentest, 2011, 263 Seiten.