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Ein Patient starb bei Routineoperation. Die angeklagte Oberärztin wurde freigesprochen.
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Wien. Es soll ein Routineeingriff werden. Am 11. September 2015 liegt Herr S. auf einem Operationstisch im Wiener Hartmannspital. Die Gallenblase soll dem 42-Jährigen entfernt werden. Eine geübte Chirurgin und Oberärztin - Jahrzehnte ist sie schon im Geschäft - ist dafür zuständig. Doch etwas geht schief. Beim Eingriff wird die Beckenschlagader verletzt. S. blutet und blutet. 16 Blutkonserven bekommt er. Die anwesenden Ärzte schaffen es nicht, die Blutung zu stoppen. Auch ein aus dem AKH herbeieilender Gefäßchirurg kann S. nicht mehr helfen. Er stirbt infolge eines Herz-Kreislaufversagens.
War es ein tragischer Unfall? Oder hat die Chirurgin einen verhängnisvollen Fehler gemacht? Darüber hat am Mittwoch Einzelrichterin Sabina Obergmeiner-Isbetcherian des Bezirksgerichts Innere Stadt zu urteilen. Die Ärztin ist wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Und wie so oft bei Prozessen rund um medizinische Eingriffe werden zwei lateinische Worte über ihre Schuld oder Unschuld entscheiden: lege artis.
Nach allen Regeln der ärztlichen Kunst - genau nach denen habe die Ärztin eben nicht gehandelt, meint die Staatsanwaltschaft Wien. Die Beckenschlagader wäre durch ein vorsichtigeres Vorgehen der Chirurgin nicht verletzt worden, so die Anklagebehörde. Nur weil etwas passiert sei, dürfe man nicht gleich die Ärztin dafür verantwortlich machen, entgegnet der Verteidiger. Seine Mandantin treffe keine Schuld: "Sie hat alles getan, was von einer Operateurin zu erwarten war."
Zwei Gutachter, zwei Meinungen
Auf divergierende Meinungen stößt man auch bei den Gutachtern. Fest steht, dass beim Öffnen der Bauchdecke des Patienten ein Skalpell verwendet wurde. Doch ob die Chirurgin dabei sorgfältig genug war, sehen die Ärzte unterschiedlich.
Da wäre einmal Gutachter Nummer 1, Chirurg Michael Winkler. Der Arzt führt in seinem Gutachten aus, dass die Oberärztin nicht lege artis gearbeitet habe. Durch eine andere Stichrichtung und Handgriffe wäre die tödliche Verletzung vermeidbar gewesen beziehungsweise unterblieben, hält er fest. "Bei Einhaltung der zu beachtenden Regeln kommt man dort nicht hin", sagt der Mediziner. Insbesondere bei einem so schlanken und fitten Menschen wie S. wäre eine andere Vorgehensweise sicherer gewesen, meint Winkler.
"Kann eine solche Verletzung auch trotz eines Lege-artis-Vorgehen passieren?", fragt Richterin Obergmeiner-Isbetcherian. "Man kann ein Pech haben und abrutschen. Das kann jedem von uns passieren", so der Chirurg. "Es gibt immer ein Risiko."
"Es gibt immer ein Risiko für diese Gefäßverletzungen", sagt dann auch Gutachter Nummer 2, Chirurg Thomas Inhauser. Nach der Aktenlage sei das Verhalten der Oberärztin fehlerfrei gewesen. "Bei der Durchtrennung der Faszie (Anm.: Weichteile des Bindegewebes) ist immer eine gewisse schnittführende Gewalt notwendig", sagt er. Und je näher diese Weichteile an den Arterien liegen, desto höher sei das Risiko, dass dabei Blutgefäße beschädigt werden, so Inhauser.
"Die Verletzung von Blutgefäßen ist ein typisches Risiko, das auch bei der allergrößten Sorgfalt nicht vermeidbar ist", sagt der gerichtliche Sachverständige. In seltenen Fällen - die Wahrscheinlichkeit liegt laut Inhauser bei 0,05 bis 0,1 Prozent - könne der Eingriff auch tödlich enden. Dieses seltene Risiko habe sich nun einmal verwirklicht.
"Die Ausführung des vorherigen Gutachters, dass eine andere Stichführung sicherer gewesen wäre: Stimmt die?", fragt Opfervertreter Marcus Januschke nach. "Ja", sagt Inhauser. "Gibt es eine Vorschrift, das so zu machen?", erkundigt sich die Richterin. "Nein", antwortet Inhauser.
Nicht zur Sprache kam am Mittwoch die Vermutung von Januschke, nach welcher nicht die Oberärztin, sondern ein im Operationssaal anwesender Medizinstudent den Schnitt ausgeführt hat. Beweise für diese Vermutung gibt es allerdings nicht.
"Man kann Frau Doktornicht verurteilen"
"Absolut lege artis und zulässig" sei der mit dem Skalpell gewählte Zugang der Chirurgin gewesen, urteilt die Richterin. Sie spricht die Angeklagte von den Vorwürfen frei. Ein schuldhaftes Verhalten sei der Ärztin nicht nachzuweisen. "Es ist tragisch, was passiert ist. Aber man kann die Frau Doktor deswegen nicht verurteilen", so die Richterin.
Auch werde man als Patient vor der Operation über die entsprechenden Gefahren aufgeklärt: "Es gibt ein Restrisiko", sagt sie. Der Freispruch ist noch nicht rechtskräftig, die Staatsanwaltschaft hat noch keine Erklärung abgegeben.
Außergerichtlich hat sich das Spital bereits mit der Witwe geeinigt. Der Frau wurde ein Trauerschmerzengeld von 60.000 Euro für den unerwarteten Verlust ihres Mannes bezahlt.