Berlins Bürgermeister Michael Müller ist der Hauptgrund, dass die SPD bei der Wahl am Sonntag stärkste Partei bleibt.
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Berlin/Wien. Michael Müller fährt mit der Rolltreppe nach oben. Das Sakko hat er bemüht leger um die rechte Schulter geworfen, während Hemdkragen und Krawatte noch akkurat sitzen. Auf dem Wahlplakat ist der 51-Jährige mit Seitenscheitel und großer Brille mit runden Gläsern in schmaler Fassung aber nur verschwommen zu sehen. Berlins Regierender Bürgermeister, so Müllers vollständige Titulierung, blickt auf eine Frau auf der gegenüberliegenden Rolltreppe. Sie ist nur von hinten zu sehen, ihr Kopftuch in Rosa dominiert das Foto. "#BerlinBleibtWeltoffen" lautet der dazugehörige Slogan.
Die Assoziation von Kopftuch mit Weltoffenheit erklärt Müller so: Nach den Anschlägen vom Sommer in Frankreich und Deutschland wollte er ein Zeichen dagegen setzen, "Mitbürger muslimischen Glaubens unter Generalverdacht zu stellen". Mehr als 250.000 Muslime leben in der 3,5-Millionen-Metropole. Am Sonntag wählen die Bürger die Mitglieder des Stadtparlaments, dem Abgeordnetenhaus. Es ist Müllers erster Wahlkampf.
Ins Amt kam er während der abgelaufenen Legislaturperiode, nachdem Klaus Wowereit 2014 zurückgetreten war. Mit dem Wechsel an der Stadtspitze nach mehr als 13 Jahren folgte auch ein Stilbruch. Knackige Einzeiler wie "Arm, aber sexy", mit denen Wowereit Berlin international positioniert hat, sucht man nun vergeblich. Auch habituell trennen die beiden Welten. Beim studierten Juristen Wowereit glitt die intellektuelle Stärke gelegentlich in Präpotenz ab. Der spröde Müller dagegen verfügt nicht über Abitur. Er war im elterlichen Druckereibetrieb tätig und gilt als sehr fleißiger Arbeiter. Zug um Zug hat er sich auch in der SPD hochgedient. Deutsche Medien spötteln regelmäßig über sein Auftreten: Müller wirkt, "als habe er sich vorsätzlich in einen Riesenbottich mit Charisma-Entferner fallen lassen", schrieb die "Süddeutsche Zeitung". Die "Zeit" attestierte Müller das "Charisma einer Büroklammer". Und die "Rheinische Post" fragte sich, wie ein "Prototyp bodenständiger Langeweile" in der hippen Hauptstadt ganz nach oben kommt.
In erster Linie, weil er erfolgreich war: Mehr als 13 Prozent betrug die Arbeitslosenrate, als eine große Koalition mit Wowereit an der Spitze 2011 ihr Amt antrat - Müller war damals mit an Bord und für Stadtentwicklung zuständig. Heute sind 9,7 Prozent ohne Job, was den niedrigsten Stand seit dem Fall der Mauer bedeutet. Dass unter Deutschlands Bundesländern nur noch Bremen mehr Arbeitslose als Berlin hat, verzeihen die Wähler Müller.
Lange honorierten sie auch die Sparpolitik der Regierung von SPD und CDU. Der Schuldenberg Berlins wurde um drei Milliarden Euro auf noch immer enorme 59 Milliarden Euro gedrückt, für heuer werden 390 Millionen Euro Überschuss angepeilt.
Marode Verwaltung versus Milliarden an Risikokapital
Die Positionierung als "Kreativmetropole" zahlt sich insofern aus, als mehr als zwei Milliarden Euro von Risikokapitalgebern alleine 2015 in die Stadt flossen. Touristen strömen nach Berlin, 40.000 Bürger siedeln sich Jahr für Jahr neu an (siehe Artikel "Wohnungswettlauf in Berlin"). Dadurch werden die Infrastrukturprobleme immer offenkundiger. Insbesondere die Schulen leiden unter der Ankündigung der Koalition, zu sparen, "bis es quietscht".
Zu kämpfen haben Neo-Berliner und Alteingesessene mit einer überforderten, weil aufgrund des Spardrucks unterbesetzen Bürokratie. Bei der Flüchtlingsbetreuung durch das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) machten sich die Probleme in der Verwaltung besonders bemerkbar: Noch immer sind Zehntausende nur in Notunterkünften wie Flugzeughangars oder Turnsälen untergebracht. Eine Verwaltungsreform hat die große Koalition nicht geschafft. Eine andere Dauerbaustelle ist der Flughafen BER.
Unter den administrativen Problemen hat auch Müllers Image gelitten. Und doch ist er weiterhin der beliebteste Politiker des Bundeslandes, bewahrt seine Partei vor Schlimmeren. "Einige tun so, als würde Berlin aus dem letzten Loch pfeifen", sagt der Bürgermeister Richtung Grüne und Linke. Dabei sind jene Parteien wohl seine künftigen Koalitionspartner. Zwar erklärt Müller, Rot-Grün sei seine Lieblingsvariante. "Forsa" prognostiziert den Sozialdemokraten 24 Prozent, das wären vier Prozentpunkte weniger als 2011. Die Öko-Partei liegt mit 17 Prozent derzeit gleichauf mit der CDU. Für eine Mehrheit wäre also die Linkspartei notwendig, sie kommt auf 15 Prozent. Somit steht die zweite rot-rot-grüne Regierung in einem deutschen Bundesland vor der Türe. Im ostdeutschen Thüringen regieren die drei Parteien bereits seit 2014.
SPD und CDU sind einander fremd geworden. In einer TV-Debatte sagte Müller diese Woche zu seinem CDU-Innensenator Frank Henkel, er wolle in einer offenen und toleranten Gesellschaft leben, "sie hingegen unterstellen jeder Frau, die eine Burka trägt, sie sei ein Sicherheitsrisiko". Der konservative Spitzenkandidat entgegnete, er wolle, "dass Deutschland erkennbar bleibt". Eine Burka sei ein Käfig aus Stoff und gehöre nicht hierher.
AfD schneidetim Osten Berlins stark ab
Auch an der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) arbeitet sich Bürgermeister Müller ab: Er sei es leid, dass man Rassismus, Intoleranz und Menschenfeindlichkeit nicht mehr benennen könne, ohne dass einem "die Nazi-Keule" vorgeworfen werde, postete er auf Facebook. Doch das, verbunden mit den "völkischen Gedanken" der AfD-Vorsitzenden Frauke Petry "sind die Zutaten, aus denen die braune Suppe angerührt wird". Berlins AfD-Spitzenkandidat Georg Pazderski bezichtigte Müller daraufhin der "geistigen Brandstiftung". Die AfD erreicht laut Umfrage aus dem Stand 13 Prozent. Das ist viel, und doch deutlich weniger als bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern Anfang des Monats. Im Nordosten der BRD bekam sie mit 20,8 Prozent sogar mehr als die CDU Angela Merkels. Daraufhin entfachte die bayerische CSU wieder einen Sturm der Entrüstung über Merkels Flüchtlingspolitik. Dabei war das Ausmaß des AfD-Erfolgs insbesondere auf regionalspezifische Gegebenheiten zurückzuführen. Auch im Osten Berlins, wo es neben aufgeblühten Vierteln weiterhin einige Problemzonen gibt, erfährt die AfD großen Zuspruch. 18 Prozent sagt das Meinungsforschungsinstitut "Infratest dimap" den Rechtspopulisten in Ostberlin voraus, während sie im Westen lediglich 13 Prozent erreichen.
Noch stärker ist das Gefälle zwischen Osten (23 Prozent) und Westen (10 Prozent) Berlins bei der Linkspartei.
Der tiefe Fallder Piratenpartei
Während die liberale FDP um den Einzug in das Abgeordnetenhaus bangt, müssen die Parlamentarier der Piratenpartei sicher Abschied vom Roten Rathaus im Ortsteil Mitte nehmen. Sensationelle 8,6 Prozent errangen sie 2011. Von den 15 Mandataren sind mittlerweile sieben aus der Partei ausgetreten, jedoch in der Fraktion geblieben. Die Piraten scheiterten an sich selbst, dem elend langen - oft untergriffigen und sexistisch geführten - Meinungsbildungsprozess. Der Fraktionschef der Berliner Piraten, Martin Delius, twitterte ein Foto mit seinem zerschnittenen Mitgliedsausweis. Er habe "keine Lust mehr", sich für das "Gebaren zu rechtfertigen". Die Wähler ebenso wenig.