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Retter im Lendenschurz

Von Christina Walker

Reflexionen

Der US-amerikanische Schriftsteller Edgar Rice Burroughs erschuf vor 100 Jahren den Dschungelhelden Tarzan - Die Hintergründe eines Mythos.


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Die imposanten Bilder kamen aus Hollywood: An verregneten Sonntagnachmittagen schwang sich Johnny Weissmuller von Liane zu Liane durchs Wohnzimmer und erfüllte es mit seinem Uuuuaaahuuuaaah! Keiner konnte den Tarzanschrei so wie er, weder Lex Barker noch Christopher Lambert, die (nebst vielen anderen) später den Herrscher des Dschungels verkörperten. Tarzan, das war der Unbesiegbare, der sich der Bestie in Löwen- oder Krokodilsgestalt auf den Rücken warf, um täppische Dschungelneulinge vor dem sicheren Tod zu bewahren. Tarzan, das war der edle Wilde, der die Souveränität des Urwalds und seiner (guten) Bewohner gegen (böse) Eindringlinge verteidigte. Tarzan, das war ein kraftstrotzendes Bild von einem Mann, das Frauen erbeben ließ - und zugleich ein naives Naturkind, das sich bereitwillig hat zivilisieren lassen, natürlich von einer Frau.

"Tarzan bei den Affen", Stummfilm 1918.
© Wiki/First National Pictures Inc.

Sparsame Moral

Nun wird der Retter im Lendenschurz schon 100 Jahre alt. Anlass genug, sich dem "Urtarzan", den Edgar Rice Burroughs 1912 erdachte, wieder etwas anzunähern - einem Helden mit Abgründen. Einem, der Fleisch (natürlich von eigener Hand erlegt) noch zuckend und roh (fr)isst und dabei laut knurrt. Einem, der nicht bloß aus Hunger und zur Selbstverteidigung, sondern "zuweilen auch aus Vergnügen" tötet. Überhaupt ist Burroughs in seinen ersten "Tarzan"-Geschichten erfrischend sparsam mit übertrieben zivilisatorischer Moral. Sie ist für ein Überleben im Dschungel ohnedies untauglich. Auch die "afrikanische" Wildnis, die Burroughs für Tarzan erfand, hat mit der orchideenverhangenen Exotik der meisten Verfilmungen wenig gemein. Töten oder Getötet werden, Fressen oder Gefressen werden, lauten die Gesetze der grünen Hölle. Der Dschungelautokrat

Im ersten "Tarzan"-Roman ("Tarzan of the Apes", 1912) gibt es nicht zuletzt unter Tarzans eigener "Familie" dauernd Streit: Ständig piesackt Tarzan die männlichen Anführer der Gruppe von Menschenaffen. Rächt sich der heranwachsende Junge so intuitiv für den Tod seiner Eltern, Lord und Lady Greystoke, den Anthropoiden verschuldet haben? Die Liebe seiner Affenmutter Kala, die das einjährige Menschlein "adoptiert" und aufgezogen hat, versöhnt Tarzan nicht mehr lange. Von Kala hat Tarzan seinen Namen, er bedeutet (übersetzt aus der Affen-Sprache) "Weiß-Haut". Und diese Weißhaut (die, stets der Sonne ausgesetzt, immer knackig braun ist) merkt sehr bald, dass sie anders ist. Ein schneller Verstand und Selbstvertrauen sind "Kennzeichen seines überlegenen Wesens". Außerdem verfügt Tarzan über "beträchtliche Körperkraft". Keine Frage, dass er seinen Machtanspruch unter den Affen geltend macht. Was ihn zudem leitet, ist ein "ererbter Instinkt": Tarzan fühlt sich als Angehöriger einer höheren Rasse (obwohl er bislang keinem ihrer Vertreter begegnet ist). Seine Überlegenheit beweist der "Herr der Affen" dann auch den im Dschungel heimischen Indigenen-Stämmen, die meist recht einfältig daherkommen oder gar dem Kannibalismus frönen.

Damals stieß sich kaum jemand an solch sozialdarwinistisch inspirierten Rassedünkeln, verfuhr man doch mit Amerikas Ureinwohnern, den Indianern, kaum besser. Als Angehöriger der US-Kavallerie hatte der in Chicago geborene Edgar Rice Burroughs (1875-1950) selbst an Einsätzen in den Indianergebieten teilgenommen. Aus gesundheitlichen Gründen quittierte er aber den Dienst in der Armee. Alsdann folgte eine berufliche Niederlage nach der anderen, als Cowboy, als Goldschürfer, als Eisenbahn-Polizist oder als Vertreter für Bleistiftspitzer. Sein Trost? Einer war die ausgiebige Lektüre von Pulp-Fiction-Heften. Doch sie stellten ihn bald nicht mehr zufrieden - und Burroughs griff selbst zur Feder. Freunde dieser Trivialliteratur liebten sein "Under the Moon of Mars". Noch im selben Jahr, 1912, erschien "Tarzan of the Apes. A Romance of the Jungle" in der Oktoberausgabe des New Yorker "All-Story Magazine". Die Leser waren wieder begeistert. Der Markt verlangte nach mehr und bekam es.

Zwei Dutzend "Tarzan"-Romane erschienen in den nächsten Jahrzehnten. Über 40 Kinofilme, etliche Radio-Serials, Comics und TV-Serien entstanden. Dazu kamen Tarzan-Spielzeug, Tarzan-Kleidung oder Tarzan-Eiscreme. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Und an allem verdiente Burroughs mit. Denn er war einer der Ersten, dem es gelang, die Rechte an seiner Kreation zu behalten. Noch heute wird diese von der ERB (E. R. Burroughs) Inc. weltweit vermarktet.

Göttlicher Held

Burroughs schrieb sich mit "Tarzan" aus der finanziellen wie aus der persönlichen Krise. Dass sein Held einen Sieg nach dem anderen erringt, ist durchaus als Kompensation zu lesen. Wohl auch, dass Burroughs nicht müde wird, Tarzans gottgleiche Erscheinung zu preisen, "seine aufrechte und vollkommene Gestalt". Dabei wehrt sich Tarzan gegen seine Vergöttlichung (zumeist durch naive Eingeborene). Er will ein "normaler Mensch" sein. Doch ein solcher zu werden, ist nicht einfach.

Alles beginnt wie bei Narziss, mit dem Blick in ein Wasser. Sein Spiegelbild bestätigt Tarzan, dass er nicht wie seine Affenbrüder ist - und er erschrickt. Die Sache mit der Selbstliebe stellt sich erst später ein. Er lernt mit Messern umzugehen, sich zu rasieren und zu kämpfen. Er lehrt sich selbst das Lesen und Schreiben: anhand von Kinderfibeln und Büchern, die eine "unüberwindliche Macht auf ihn auszuüben schienen". Ein französischer Leutnant, dem er das Leben rettete, bringt Tarzan die (französische) Sprache und "zivilisierte" Manieren bei. Jane Porter vervollständigt dieses Werk in den nächsten "Tarzan"-Bänden.

Der Wilde ist Mensch geworden, nicht im Sinne einer Domestizierung, sondern im Sinn einer Synthese des Wilden und des ohnehin in ihm angelegten Zivilisierten. Gestützt auf beides, Natur und Kultur, wird Tarzan der Erlöser aus den Bäumen, ein Superheld, der keine (Selbst-)Zweifel kennt.

Allein bei der Liebe, namentlich bei Jane Porter, verliert Tarzan kurz seine Siegesgewissheit. "Er [Tarzan] wusste, dass sie [Jane] geschaffen war, um beschützt zu werden, und dass er geschaffen war, sie zu beschützen", heißt es erst zuversichtlich. Tatsächlich muss Tarzan Jane gleich aus den Fängen eines bösen Affen befreien: da "schwand der Schleier jahrhundertealter Zivilisation und Kultur vor dem verschwommenen Blick dieser jungen Frau aus Baltimore." Trotz heftiger gegenseitiger Anziehung wird die Eroberung von Jane Tarzans aufreibendstes Abenteuer. Denn die Liebe ist nun einmal nicht bloß animalische Kraft, sondern ein komplexer gesellschaftlicher Akt. Das weiß Jane besser, obwohl ihr dann doch beim "urzeitlichen Waldgott" die Knie weich wurden, und nicht bei dem gut erzogenen "jungen Franzosen", der ihr in die USA nachreist.

Natürlich kriegen sich die beiden und werden glücklich. Was Autor Burroughs nicht daran hindert, Tarzan in jedem weiteren Buch neue, verführerische Frauen vor die Nase zu setzen, die beschützt werden müssen. Sex sells. Dass es bloß unüberlesbar knisterte, reichte in züchtigen Zeiten.

Burroughs wusste einfach, was sein Publikum wollte: gefährlich leben, "wenn auch nur indirekt", und jede Menge Abenteuer "weit weg von den Problemen und Verwirrungen der Zivilisation". So führt uns die grenzenlose Phantasie des Autors zu legendären Goldstädten im Urwald, zu verschollenen Inseln, zum Mond, ins Reich der kleinen Ameisenmenschen (die Tarzan kidnappen) oder zum Mittelpunkt der Erde (wo Tarzan u. a. gegen Dinosaurier antreten muss). "Es ist immer mords was los in einem Tarzan-Roman", hat Georg Seeßlen es schön auf den Punkt gebracht.

Dazu verwendet Burroughs auch gern Bruchstücke aus der Menschheitsgeschichte und ihrer (aus amerikanischer Perspektive kommentierten) Gegenwart. Wir begegnen römischen Legionen, versunkenen Indianervölkern, sadistischen Nazis und niederträchtigen Kommunisten. Ein loses Geschichtsmosaik, das sich aus zwei Dutzend Bänden zusammensetzen lässt. Tarzan wiederhole die Evolution seiner Vorfahren, schrieb Burroughs einmal unbescheiden. Sein Superheld verkörpert also nichts weniger als die menschliche Zivilisationsgeschichte in einem einzigen Leben.

Der Tarzantyp

Und heute? Noch immer hallt Tarzans Schrei aus Fernsehern oder ausverkauften Musicalhallen, in denen ein Kuscheldschungel aufgebaut ist. Ist das der "furchterregende Kampfruf des siegreichen Affenmännchens", das getötet hat oder seine Feinde davor warnt? Burroughs’ Tarzan ist längst weichgespült, die faszinierende Vielschichtigkeit der Figur kaum mehr evident. Schade um den knurrenden Fleischfresser, der sich ebenso gekonnt durch die Bäume schwingt, wie er sich in einem eleganten Salon zu benehmen weiß. Schade um den urzeitlichen Waldgott, dem der Lendenschurz genauso gut steht wie der Maßanzug. Denn Tarzan ist unendlich anpassungsfähig. Eben das macht ihn zu einem Prototyp des modernen Menschen. Noch dazu beherrscht er die Kunst, sich bei aller äußeren Wandelbarkeit im Wesen stets treu zu bleiben. Beeindruckend, ist man versucht zu sagen. Eine Ratgeberseite für Männer im Internet hat den "Tarzantyp" gar zum kommenden Männertypus gekürt. Und das liegt weniger an Tarzans (trotz Zivilisierung) unverfälschter und ungebrochener Virilität, als an anderen Eigenschaften. "Sei wie Tarzan!", wird da für mehr Erfolg beim anderen Geschlecht geraten. "Sei natürlich, sei spontan, sei direkt, sei ehrlich, sei souverän!" Empfehlungen, die sich nicht nur aufs Flirten anwenden lassen.

Christina Walker, geboren 1971 in Bregenz, studierte Germanistik und Theaterwissenschaft in Wien. Lebt und arbeitet als freie Autorin und Lektorin in Bochum.

Edgar Rice Burroughs: "Tarzan bei den Affen", "Tarzan und die Schiffbrüchigen", "Tarzan und der Verrückte". 3 Romane in Kassette. Mit einem Nachwort von Georg Seeßlen. Übersetzt von Ruprecht Willnow, Marion Hertle und Stephan Pörtner. Illustrationen von Patric Sandri. Walde + Graf Verlag, Berlin 2012, 620 Seiten, 27,80 Euro.