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Retter in ständiger Gefahr

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© WZ

Die EU fühlt sich zu Großem berufen - und wähnt sich doch stets am Abgrund.


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"Die ganze Welt beobachtet Europa, ob wir in der Lage sind, gemeinsam aufzustehen." Diese großen Worte sprach, keineswegs gelassen, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Freitag vor Beginn des EU-Sondergipfels. Dabei gehören in Brüssel Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs ebenso zur Routine wie die Überhöhung der eigenen Rolle in welthistorische Sphären. Zumindest in dieser Hinsicht ist die EU längst auf Augenhöhe mit den USA und China, die sich ja ebenfalls seit jeher auf auserwählter Mission wähnen.

In dieses Bild von der eigenen Besonderheit passt auch die Rolle, in der sich die EU im Kampf gegen die Klimakrise sieht: "Wer, wenn nicht Europa könne das Klima retten", argumentiert etwa eine Galionsfigur des Deutschland-Ablegers von "Fridays for Future". Und formuliert dabei einen Anspruch, dem sich auch die Spitzen der Brüsseler EU-Bürokratie verschrieben haben.

Dieses fast grenzenlose Zutrauen in die eigenen Möglichkeiten, kontrastiert auffällig mit einem Gefühl der eigenen prekären Existenz. Die steht quasi ununterbrochen auf dem Spiel und vor dem Abgrund. Auch jetzt wieder sind die Warnungen in allen Medien allgegenwärtig, die vor dem Untergang der Union mahnen, wenn keine Einigung über das Budget und den Wiederaufbaufonds gelinge. Auch nach siebzig Jahren kultiviert die Union das ständige Gefühl der eigenen Endlichkeit.

Nachdem alles, was entstanden ist, auch wieder vergehen kann, ist diese Einsicht auch nicht falsch. Und zweifellos stellt der erste Austritt eines Mitglieds - und dann auch noch das immens wichtige Großbritannien! - eine Zäsur dar; eben, weil dadurch allen deutlich wurde, dass die europäische Integration kein Selbstläufer ist, sondern das Ergebnis harter politischer Arbeit sein muss.

Die darf allerdings nicht nur in eine Richtung gehen. Für die großen Themen der Gegenwart - der Kampf gegen die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen von Corona, Klimaschutz, Digitalisierung, Sicherheit, Migration und Welthandel - benötigt es eine einheitliche Stimme und Gestaltungsmacht der EU; gleichzeitig zeigen zahllose empirische Studien, dass die Bürger diese Notwendigkeiten nicht als Freibrief für einen Machtzuwachs der oft fernen EU-Institutionen begreifen. Und besonders groß ist die Skepsis beim Thema Geld, wie die Debatten beim laufenden Sondergipfel wieder einmal belegen.

Im Übrigen hätte die EU nichts gewonnen, wenn eine Einigung über fast zwei Billionen Euro anschließend nur in einem Teil der EU-Staaten von den Bürgern begrüßt, in anderen jedoch mehrheitlich abgelehnt werden würde. Eher im Gegenteil.