Die aktuelle Krise der SPÖ und ihre "Lösung" rücken wieder strukturelle Schwächen der alten Parteien in den Fokus.
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Die SPÖ zählt nicht gerade zu jenen Parteien in Österreich, die der Basisdemokratie das Wort reden. Sie ist eine alte Partei, die nach wie vor streng hierarchisch strukturiert ist, auch wenn vor einigen Jahren, etwas halbherzig, die direktdemokratischen Elemente im Statut gestärkt wurden. Die gesamte Genese der Organisationsreform war allerdings auch eine Groteske.
Denn schon unter Werner Faymann war 2014 eine große Statutenänderung initiiert worden, die Mitglieder sollten dabei eingebunden werden. Der für 2016 angepeilte Beschluss wurde nach dem Vorsitzwechsel zu Christian Kern verschoben, der dann 2018 sogar die Mitglieder zu der Reform befragen ließ. Die Basis votierte mehrheitlich für eine Ausweitung der Mitgliederrechte, unter anderem sollten Koalitionsabkommen verpflichtend einer Urabstimmung unterworfen werden. Doch trotz breiter Zustimmung wurde die Reform auf den letzten Metern, dann bereits unter Pamela Rendi-Wagner und mutmaßlich auf Betreiben der Wiener SPÖ, doch noch zurechtgestutzt.
Den Sozialdemokraten eine große Reserviertheit oder sogar Ängstlichkeit gegenüber der Basisdemokratie zu attestieren, ist nicht übertrieben. Und dennoch ist die SPÖ jene Partei, die in den vergangenen Jahren häufiger als andere ihre Mitglieder befragt hat. Kern zum Handelsabkommen Ceta, Rendi-Wagner zu inhaltlichen Schwerpunkten und sich selbst, nun soll die Basis zwischen ihr und Hans Peter Doskozil entscheiden. Auch auf Landesebene griff man in der SPÖ zu derartigen Befragungen. "Aber nur dann, wenn es strategisch opportun erschien", sagt der Politologe Peter Filzmaier.
Aus dieser Hinwendung zur parteiinternen direkten Demokratie spricht die Not, nicht innere Überzeugung. Im aktuellen Grundsatzprogramm wird auch nur der repräsentativen Demokratie eine Hymne gesungen, die "gegebenenfalls durch die direkte Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an Entscheidungen" ergänzt werden soll. Wer so formuliert, will der direkten Demokratie nicht zum Durchbruch verhelfen, sondern sie im Sog moderner Strömungen so gut es geht einhegen. Und bisher habe es auch solche "top-down" Befragungen gegeben, erklärt Filzmaier. Die Entscheidung hat die Parteileitung getroffen, obwohl dieses demokratische Element eigentlich dazu dienen sollte, die Anliegen der Basis zu stärken.
In Europa sind SPÖ und ÖVP noch immer Mitglieder-Krösus
Die Ambivalenz der SPÖ deutet auf ein sehr tief liegendes strukturelles Problem hin. Die Partei ist de facto unführbar geworden, jedenfalls wenn sie in Opposition ist. Man kann nur mutmaßen, ob dies bei der ÖVP auch der Fall wäre, denn diese regiert seit 1986 ohne Pause. Doch die Phasen, in denen die Volkspartei nur als Juniorpartner agierte, waren für die jeweiligen Parteichefs, um es vorsichtig zu sagen, eher kompliziert.
Beide einstigen Großparteien können auf eine historisch gewachsene, verästelte Struktur mit großer Basis zurückgreifen. Im Laufe der Jahrzehnte haben SPÖ und ÖVP zwar viele Mitglieder verloren, der Politologe Laurenz Ennser-Jedenastik verweist aber darauf, dass beide Parteien im internationalen Vergleich nach wie vor hohe Mitgliederzahlen haben. CDU/CSU in Deutschland kommen gemeinsam auf rund eine halbe Million Mitglieder, die ÖVP gab zuletzt 600.000 an, inklusive der Teilorganisationen. Das ist sogar in absoluten Zahlen mehr. Bei der SPD sind es 380.000, nur rund dreimal so viele wie derzeit bei der SPÖ. Beide Parteien setzen weiterhin auf das Konzept der Mitglieder, auch wenn das nur bedingt zeitgemäß ist. Mit mehr Rechten und mehr Einbindung hofft man, wieder attraktiver für Junge zu sein. Bei der SPÖ ist das Durchschnittsalter der Mitglieder 63 Jahre.
Es gibt einen wichtigen Vorteil einer breiten Struktur: Politik muss erklärt werden. Dafür gibt es heute mehr Möglichkeiten wie spezifische Mailings und Videos auf Social Media. Neben kommunikativer Fähigkeiten der Politiker sind Kontaktdaten potenzieller Wählerinnen und Wähler wichtig. Der Wert der Basis sollte aber auch grundsätzlich nicht unterschätzt werden; der sonntägliche Stammtisch, an dem der Gemeinderat sitzt, der Seniorenverein, der eine Busreise unternimmt. Dieses Netz hat nicht mehr die Bedeutung von früher, ist aber für SPÖ und ÖVP nach wie vor von Relevanz. "Es geht auch um Organisierbarkeit", sagt Filzmaier. Wenn der ÖVP-Parteichef einen Betrieb in Oberösterreich besuchen will, reicht ein kurzer Anruf beim Bezirksobmann.
Ein Blick nach Frankreich weist auf das Defizit, wenn derartige Strukturen fehlen. Emmanuel Macron hat mit seiner Partei Rennaisance nur rund 27.000 Mitglieder - für ganz Frankreich. Es wird nicht der einzige Grund sein, weshalb sich Macron seit Beginn schwertut, seinen Reformweg umzusetzen, aber es könnte ein Aspekt sein. Er hat weniger Kommunikationskanäle zur Verfügung.
Personalplanung ist kaum möglich
Auf der anderen Seite ist eben diese Verästelung auch ein Hindernis. Zum einen müssen Parteileitungen heterogene Interessen permanent austarieren, das verschlingt viele Ressourcen. Es macht auch Personalplanung schwierig, da öfter auf spezielle Bedürfnisse und Begehrlichkeiten eingegangen werden muss, als dass Talente behutsam aufgebaut werden können. Bei der ÖVP werden die Vorstandsmitglieder gar nicht gewählt, sondern sind kraft ihres Amtes im Gremium vertreten, darunter alle Landeschefs und die Obleute der Bünde.
In guten Zeiten ist alles vergleichsweise einfach. Doch setzt sich einmal eine Unzufriedenheit fest, besteht auch durch diese Struktur das Risiko, dass eine nur schwer kontrollierbare Dynamik einsetzt. Bei der ÖVP können drei Landesorganisationen einen Parteitag durchsetzen, bei der SPÖ müssen es fünf sein. Genau das führte 2016 zum plötzlichen Rücktritt von Parteichef Werner Faymann. Nicht das mächtige Wien oder die Gewerkschaft hatten den Daumen gesenkt, sondern die nicht rasend erfolgreichen Landesorganisationen aus Vorarlberg, Steiermark und Salzburg probten den Aufstand und konnten auch Niederösterreich und Kärnten überzeugen.
Neos-Gründer Matthias Strolz, der als Organisationsentwickler tätig war und wieder ist, nannte in der "Wiener Zeitung" einmal drei Merkmale, die politische Parteien von Unternehmen unterscheiden: "Es geht nicht um Gewinnmaximierung, sondern um Machtgewinn, Machterhalt und Machtausübung. Jeder strebt danach." Ein zweiter wichtiger Punkt sei, dass nur alle paar Jahre das "Produkt" gehandelt werde: am Wahltag. "Das führt zu einer hysterischen Fokussierung. Alle anderen Prozesse, die in der Organisation laufen, werden entweder abgebrochen oder nach hinten sortiert", sagt Strolz.
Christian Kern und Sebastian Kurz versuchten beide, die Vorteile ihrer Parteistruktur zu nutzen und gleichzeitig die Nachteile durch die Kraft ihres Charismas mit einer stark auf ihre Person ausgerichteten Führung zu reduzieren. Es ist ihnen unterschiedlich gut gelungen. Kurz hatte den Vorteil, über einige Jahre Erfahrung sammeln und ein Team aufbauen zu können, bis er die Partei übernahm - bekanntlich bis an die Schnittstellen zur Verwaltung, wie die Chat-Affäre zeigte. Kern kam de facto von außen, hatte wenig Erfahrung und war am Ende doch zu wenig verankert. Er agierte in der Parteiführung auch erratischer als Kurz.
Eine Frage der Netzwerke
Rendi-Wagner war innerhalb der Partei so gut wie gar nicht vernetzt, als sie SPÖ-Chefin wurde, auch wenn sie in ihrer kurzen Zeit als Ministerin durchaus populär war. Doch im Regelfall ist die Wahl an die Parteispitze das Ergebnis einer jahrelangen Anstrengung in der Partei und eines Aufbaus von Allianzen. Im Fall von Rendi-Wagner kam erst die Wahl, danach musste sie sich innerparteilich legitimieren. Sie tat dies, indem sie unzählige Termine wahrnahm. So konnte sie sich ein Netzwerk aufbauen, das sie bis heute unterstützt, darunter die SPÖ-Frauen, die Gewerkschaft sowie Urgestein Doris Bures, deren enger Vertrauter Christian Deutsch auch Bundesgeschäftsführer ist. Statuten sind das eine, informelle Strukturen aber mindestens so wichtig.
Zunehmender Druck, versteckte wie offene Fouls von Parteifreunden und eine chronische Umfragenschwäche dürften in jüngerer Vergangenheit zu einem Abkapseln der Parteiführung geführt haben. Das berichten Funktionäre. Als Rendi-Wagner Anfang 2020 kurz die Mitgliederbefragung über sich selbst initiierte, überraschte sie damit den Vorstand völlig, der das Vorhaben nur hauchdünn durchwinkte.
Doch wer immer sich beim nun bevorstehenden Votum durchsetzen sollte: Eine integrative Figur ist mittlerweile weder die amtierende Parteichefin, noch wäre es der Herausforderer. Doch die normative Kraft des Faktischen ist gerade bei SPÖ und ÖVP ausgeprägt. Sollte sich, erstens, der Grundsatzkonflikt durch die Entscheidung zwischen Rendi-Wagner und Doskozil tatsächlich lösen sowie, zweitens, die Umfragen dadurch wieder deutlich nach oben zeigen, kann sich auch eine Beruhigung ergeben. Die Vergangenheit hat gezeigt: Komplizierte Struktur hin oder her - auch rasche Adaption ist eine Eigenschaft dieser Parteien.