Die Tage des Autos sind gezählt, dachte man. Doch dann kam die Corona-Pandemie. Über die bizarre Rückkehr eines fetischisierten Kulturobjekts.
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Die Corona-Pandemie ist auch eine allgemeine Wahrnehmungskrise. Da lösten sich wie von Geisterhand die kilometerlangen Staus in den Städten auf, eroberten Radfahrer und Fußgänger die Boulevards und Straßen zurück, waren Städte quasi autofrei. Es schien, als könnte Corona etwas schaffen, was der Umweltbewegung jahrzehntelang verwehrt blieb. Doch inmitten der Pandemie erlebte das Auto ein fulminantes Comeback. Statt in die Virenschleudern des öffentlichen Nahverkehrs setzten sich die Leute in die infektionssichere Kiste.
Was wurden nicht für Abgesänge auf das Auto angestimmt! Das Auto sei ein Auslaufmodell, hieß es, eine Technik von gestern: laut, raumfressend, umweltzerstörerisch. Der Freiheitsmythos, so die Kulturkritik, sei längst verblasst, er werde von der Industrie fetischisiert, um ein schmutziges Milliardengeschäft zu betreiben. "Adieu Auto", titelte der "Falter". Doch dann kam Corona - und bremste die Verkehrswende mit voller Wucht aus.
"Untote Vergangenheit"
In zahlreichen Städten wurden Drive-in-Testzentren eingerichtet, wo man mit dem Auto als mobilem Wartezimmer zum Abstrich-Nehmen fährt. Die feierwütige Adoleszenz funktionierte den Innenraum kurzerhand in einen Dancefloor um und traf sich zu "Drive-in-Raves", wo unter einem Hupkonzert vor einer Techno-Bühne Party gemacht wurde. Und mit den Autokinos wurde ein nachgerade museales cineastisches Erlebnis wieder salonfähig, das man längst in verstaubten Filmarchiven glaubte. Das Auto wird zum Vehikel eines Retropia: So nannte der Soziologe Zygmunt Bauman jene rückwärtsgewandte Vision, die sich nicht mehr aus der Zukunft, sondern einer "untoten Vergangenheit" speist.
Das Auto hat ja schon zahlreiche Krisen überlebt: Weltkriege, Ölkrise, Umweltkatastrophen. Und doch kehrte es aus jeder dieser Krisen mit ein paar PS mehr zurück. Auch die Corona-Krise könnte das Auto - mit neuem Antrieb und Anstrich - unbeschadet überstehen. Wo der Traum vom Fliegen zum Menetekel wird, wo Passagiermaschinen auf Flughafenfriedhöfen wie Memento mori einer vergangenen Industriegesellschaft herumstehen, wird das Auto zum Fluchtpunkt einer Mobilitätssehnsucht. Das Gaspedal mutiert zum letzten Hebel einer ausgebremsten hedonistischen Gesellschaft, die nicht mehr ins Stadion darf, keine Konzerte mehr besuchen darf und keine Sangria-Partys mehr feiern darf. Genau mit diesem eskapistischen Versprechen knüpft das Auto - trotz oder gerade wegen seiner technischen und ideologischen Rückwärtsgewandtheit - an die frühen Utopien der Moderne an.
Am 20. Februar 1909 publizierte der Schriftsteller und Futurist Filippo Tommaso Marinetti in der Zeitung "Le Figaro" sein berühmtes "Manifest des Futurismus". "Wir erklären", hob er darin an, "dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen ... ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake." Der Futurismus postulierte eine neue Ästhetik des Schnellen, er feierte die rauschhaften Geschwindigkeitsexzesse und verbrämte die Langsamkeit als etwas Reaktionäres. Die Geschwindigkeit bedeutete für Marinetti den ultimativen Motor der Modernität, die Fliehkraft aus der Trägheit tradierter Strukturen. Der Verbrennungsmotor war für ihn ebenso "göttlich" wie Benzin.
Rasender Stillstand
"Die Trunkenheit der großen Geschwindigkeiten der Automobile ist nichts anderes als die Freude, mit dem einzigen göttlichen Wesen zu verschmelzen", schrieb er in seinem Essay "Die neue Religion-Moral der Geschwindigkeit" aus dem Jahr 1916. Marinetti träumte davon, "begleitet vom Gebell eines wild gewordenen Foxterriers (...) die Donau schon bald schnurgerade und bei 300 Stundenkilometern dahinrasen zu sehen". Der Futurist konnte nicht ahnen, dass diesen Traum animalischer Brüllmaschinen auch andere träumen sollten, dass das Fahrerlebnis heute ein ganz profanes ist.
Tagein, tagaus schieben sich kilometerlange Blechlawinen in die Metropolen dieser Welt. In Deutschland, so hat der ADAC nachgerechnet, standen Autofahrer im vergangenen Jahr 459.000 Stunden im Stau - das sind 52 Jahre. Es ist das Paradoxon der Moderne: Nichts bewegt sich, doch die Zeit rast. Im Zentrum Manhattans ist die durchschnittliche Geschwindigkeit seit 2010 um die Hälfte gesunken (vor Corona), im Londoner Stadtverkehr kriechen die Fahrzeuge mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 11 Kilometern pro Stunde vorwärts. Für virile Sportwägen, die 300 Stundenkilometer schnell fahren könnten, kommt das einer Kastration gleich. Safety first gilt in jeder Hinsicht.
Die kurvigen Designs sind aus dem Verkehr nahezu verschwunden, der Eros der Knutschkugeln wie der BMW Isetta ist dem bellizistischen Antlitz von Panzerfahrzeugen gewichen. Man sieht martialisch-vergitterte Kühlerhauben, die bullige Karosserie von SUVs, die so designt sind, als wären sie für die Schlachtfelder in Kriegsgebieten konstruiert. Längst ist die Straße zur erweiterten Kampfzone einer radikal individualisierten Gesellschaft verkommen, wo man sich mit entsprechender Sitzhöhe und Masse Vorteile im täglichen Überlebenskampf an der Mobilitätsfront verschafft. Seit Jahren ist eine fatale Aufrüstungsspirale in Gang. Immer schwerer, massiver werden die Boliden. Trotz aller Warnungen über die Folgen des Klimawandels, trotz höherer Steuern und sozialer Ächtung. Ein SUV soll wehrhaft sein, wobei es gleichsam gilt, militärische Assoziationen zu vermeiden. So ist aus ingenieurstechnischer Sicht zu erklären, warum im Straßenverkehr immer mehr verkappte Militärfahrzeuge unterwegs sind.
Das Recht des Stärkeren
Der Stadtsoziologe Stephen Graham argumentiert in seinem Buch "Cities Under Siege: The New Military Urbanism" (2010), dass der erste Golfkrieg ein Exerzierfeld für Allradantriebe war und diese Militärtechniken nun als eine Art Bumerang in die Städte des Westens zurückkehren: in Form von Überwachungstechnik, Bunkerarchitektur oder eben Sportgeländewagen. Die Automobilhersteller bewerben dieses Sicherheitsversprechen. BMW führt den X5 Security Plus, dessen gepanzerte Fahrgastzelle selbst den Beschuss von Kalaschnikows Granatwerfer (!) überstehen soll. Daimler inszenierte die Markteinführung seines CLA Shooting Brake (der Name lässt weniger autoaffine Gemüter an schwere Schusswaffensysteme denken) unter dem Claim "Groß. Stadt. Jäger", was den Jagdtrieb potentieller Käufer im Großstadtdschungel wecken sollte, aber so manchen Jagdszenen im Innenstadtverkehr Vorschub leistete. Der Verkehr ist das letzte Wild-West-Reservat zivilisierter Gesellschaften. Es gilt das Recht des Stärkeren.
Autos sind bei Lichte betrachtet Todesmaschinen. Jedes Jahr kommen 1,35 Millionen Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben. Der Straßenverkehr ist gefährlicher als Aids. Allein in Deutschland gab es 2018 3275 Verkehrstote. Das sind fast 30 Mal so viele Todesfälle, wie sie die Bundeswehr seit 1992 bei Auslandseinsätzen zu beklagen hat (111). Im September 2019 raste ein Porsche Macan in der Berliner Innenstadt in eine Menschenmenge, nachdem der Fahrer mit überhöhter Geschwindigkeit auf der Gegenfahrspur den stehenden Verkehr an der Ampel überholt hatte. Das Panzerfahrzeug walzte einen Ampelmast und mehrere Poller nieder, durchbrach einen Bauzaun und kam erst auf einer Baustelle zum Stehen. Vier Menschen starben. Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld. Die Militarisierung von Städten, die mit Pollern, Betonbunkern und Videoüberwachung zu Festungen aufgerüstet werden, als müssten sie auf einen Belagerungszustand reagieren, korrespondiert dabei mit der Militarisierung von Fahrzeugen. Der US-Soziologe Todd Gitlin hat einmal gesagt, der SUV sei "der Ort, wo Außenpolitik die Straße trifft".
Wenn man auf einer Autobahnbrücke steht und dabei zusieht, wie hochgerüstete Boliden wie Geschosse über die fünfspurige Bahn zischen, als seien sie aus einer unsichtbaren Bazooka abgefeuert worden, dann zeigt sich nicht bloß die Zerstörungskraft dieser Todesmaschinen, sondern auch eine gewisse faschistoide Ästhetik: Dieses uniformierte Massenritual des Sich-ans-Steuer-Setzens und Gaspedal-Durchdrückens ("Bleifuß"), dieser lärmende, dröhnende Gleichschritt, die Mobilmachung der Motoren, die irgendwie auch die alte Stärke der Industrienation heraufbeschwören soll - das alles erinnert an Massenaufmärsche und Militärparaden in faschistischen Regimen, die Zurschaustellung eines megalomanen Körpers, einer Formation, in der die Individualität in der Masse untergeht.
Perfekte Fahrer-KI
Man muss jeden Moment damit rechnen, dass das Zivile ins Gewaltsame umschlägt. Und je öfter man sich diese Karosserielandschaften anschaut, die Inszenierung motorisierter Massenkörper, desto anachronistischer wirkt die Veranstaltung. Das Auto ist das Relikt einer Industriegesellschaft, in der Leistung in Pferdestärke gemessen wurde und Freiheit in Geschwindigkeit.
Die Entwicklung von Roboterautos wirkt vor diesem Hintergrund wie die Hoffnung auf einen demilitarisierten, zivilisierten Verkehr. Googles verantwortlicher Projektleiter für autonomes Fahren, Dmitri Dolgov, sagte einmal: "Wir bauen keine Autos. Wir bauen den Fahrer." In den ingenieurstechnischen Konstruktionsplänen kommt auch die Utopie vom "Neuen Menschen" zum Ausdruck, eine Maschine, die nicht rast oder drängelt, sondern das ausführt, was man ihr einprogrammiert hat. Man baut dem System die menschliche Unvernunft aus und konstruiert die perfekte Fahrer-KI. Googles selbstfahrende Autos haben weder Lenkrad noch Pedale. Das Kommando übernimmt der Computer. Doch der Autofahrer betrachtet es immer noch als sein Vorrecht, mit 200 Sachen über die Autobahn zu brettern, weshalb eine programmierte Geschwindigkeitsbegrenzung von vielen wohl mehr als Einschränkung ihrer Freiheit empfunden wird als eine Ausgangssperre. Und das erklärt auch, warum es in der Autofahrernation Deutschland bis heute kein Tempolimit gibt (ein entsprechender Gesetzentwurf wurde im Oktober 2019 vom Deutschen Bundestag abgeschmettert).
Die Losung "Freie Fahrt für freie Bürger", die man inzwischen im AfD-Fanshop als Plakette käuflich erwerben kann, ist längst zur hohlen Phrase verkommen. Und irgendwie scheint sich der ideologisierte Kulturkampf zwischen Autofahrern und Radfahrern auch entlang politischer Gräben abzuspielen. Das Auto ist kein Kulturobjekt mehr, mit dem sich in urbanen Milieus Distinktionsmerkmale setzen lassen (allenfalls mit einem Tesla, aber wohl eher mit einem E-Bike). Es verkörpert noch immer eine sehr breitbeinige Vorstellung von Mobilität, eine archaisch-chauvinistische Attitüde des Revierabsteckens, nach dem Motto: Platz da, jetzt komme ich! Daher rührt auch die Daimler-Werbung "Groß. Stadt. Jäger", die das Bild einer bürgerlichen Großwildjagd evoziert, wo man mit seinem fahrbaren Unterstand Jagdtrophäen sammelt: den Parkplatz in der Innenstadt, den Stellplatz vor dem angesagten Restaurant etc.
Das Auto ist auch nicht mehr das Lustobjekt der Spaßgesellschaft, wie es die Autowerbung gerne suggeriert - die Kleinraumdisco zwischen Lenkrad und Handbremse ist wohl eher eine Notlösung -, sondern eine Spaßbremse, eine mobile Festung, in die niemand gerne hineingeht, so wie niemand gerne in den Krieg zieht.
Bunkermentalität
Das Cocooning, die räumliche Abkapselung von der Außenwelt, die Idee eines transportablen Zuhauses, das neben der Mobilität das zentrale Versprechen des Automobils war, ist einer Bunkermentalität gewichen. Im Gegensatz zu Radfahrern oder Fußgängern kämpft der Autofahrer nicht mit offenem Visier, sondern verschanzt sich hinter seinem Steuer und versucht, im Schutz der Anonymität Geländegewinne zu erzielen (wobei das mit der Anonymität gewissermaßen eine Auto-Fiktion ist, weil der Fahrer mit Sensoren lückenlos überwacht wird). Das Auto wird als Abwehrbataillon in Stellung gebracht, zu Hause, damit der Möbelwagen nicht vor der Einfahrt parkt, im Verkehr, damit der Vordermann nicht überholen kann, oder in einer Epidemie, damit der virologische Feind nicht ins Innere eindringt.
Man mag sich am sportiven Design und Sound von SUVs delektieren, und man mag auch das teilweise libidinöse Verhältnis der Menschen zum Automobil verstehen. Doch diese gepanzerten Kapseln, die täglich in die Städte fahren, sind nicht nur ästhetisch eine Kriegserklärung, sondern auch eine Kampfansage an die offene Gesellschaft: Wir wollen mit den anderen nichts zu tun haben! Das Auto erlaubt eine weitgehend anonyme Teilnahme am öffentlichen Leben, deren Interaktion sich auf Blinken, Hupen und allenfalls ein Handzeichen erschöpft. Es sind Blech gewordene Filterblasen.
Das Automobil hat auch ein kulturelles Problem, weil es sich zunehmend zum Ego-Shooter von Besitzern entwickelt, die den öffentlichen Raum bloß noch als Drive-through privater Interessen betrachten. Von daher ist es nur konsequent, das Auto ins Zentrum einer Kulturkritik zu rücken: Ist das noch (Ingenieurs-)Kunst - oder kann das weg? Der Verbrennungsmotor ist ein Auslaufmodell, und ob Wasserstoff und Elektromotor die Antriebstechniken der Zukunft sind, ist fraglich. Auch wenn die Technik überholt ist, das Konzept eines Innenraums ist es nicht. In Japans alternder, atomisierter Gesellschaft ist es zur Sitte geworden, dass sich Männer für ein paar Stunden ein Auto mieten, um dem hektischen Alltag in den dichten Metropolen zu entfliehen. Die Fahrzeuge werden aber nicht bewegt, sondern als individuelle Schlafstätte, Büro oder Kino genutzt.
Die Autovermieter hatten sich gewundert, dass die Fahrzeuge zurückgegeben wurden, ohne dass ein einziger Kilometer gefahren wurde. Doch offenbar ist nicht das Fahren attraktiv, sondern der private Raum. "Ich habe ein Auto gemietet, um ein verpacktes Essen zu verspeisen, das ich in einem Convenience Store gekauft hatte, weil ich keinen Ort gefunden habe, um Mittag zu essen", sagte ein 31-jähriger Angestellter. So bastelt man sich nach dem Do-it-yourself-Prinzip seine eigene mobile Mensa zusammen. Not macht erfinderisch.
Es ist ja schon eine Ironie, dass das Auto in der spätkapitalistischen Gesellschaft zur Immobilie wird, in der man alles tut: schlafen, essen, arbeiten, Partys feiern, Corona-Tests durchführen - nur eben nicht fahren. Ausgerechnet in einem Fortbewegungsmittel sucht man Entschleunigung! Andererseits verweist diese Flexibilität auf eine hohe Anpassungsfähigkeit von Fahrzeugen an ihre systemische Umwelt. Solche modularen Systeme, die überall andocken können, sind am Ende diejenigen, die am längsten überdauern. In einem Restaurant kann man nur essen und trinken. In einem Auto, zumal in einem autonomen, kann man fast alles tun. Vielleicht liegt die Zukunft des Autos nicht in der Mobilität, sondern in der Immobilität.
Adrian Lobe, geboren 1988 in Stuttgart, studierte Politik- und
Rechtswissenschaft und schreibt als freier Journalist für diverse Medien im deutschsprachigen Raum.